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„Mehr als einige schöne Trinksprüche“. Die Konsensstrategien der ersten Großen Koalition (1966–1969)
(2006)
Seit 2005 regiert eine Große Koalition die Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, nach der Funktionsweise der Ersten Großen Koalition (1966–1969) zu fragen. Sie hatte ebenfalls große Herausforderungen zu bewältigen (Notstandsgesetzgebung, Finanzverfassungsreform u.a.) und wird in der Zeitgeschichtsforschung als besonders innovationsfreudig eingestuft. Gegenstand des Aufsatzes ist die Frage, mit welchen Strategien es dem Kabinett Kiesinger/Brandt gelang, zwischen den damals noch sehr gegensätzlichen Parteien CDU/CSU und SPD das nötige Maß an Konsens herzustellen. Dabei wird insbesondere untersucht, welche Kommunikationsstrukturen die Koalition nutzte bzw. erst aufbaute.
Zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft hatten im Gefüge der deutschen Reichsbehörden buchstäblich kaum einen Stein auf dem anderen gelassen: Die Dienstgebäude vieler Reichsministerien in Berlin waren schwer beschädigt und ihre Akten, sofern nicht unter Trümmern begraben oder bei Kriegsende vernichtet, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Aber auch im übertragenen Sinne stand am Ende der NS-Herrschaft kaum ein Stein mehr auf dem anderen. Der expandierende Bereich des Autobahnbaus war auf Hitlers Weisung wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machteroberung aus dem Verkehrsministerium ausgegliedert worden. Das Reichsfinanzministerium hatte einen beträchtlichen Teil seines Einflusses auf die Haushalte der einzelnen Ressorts verloren, dem Reichsarbeitsministerium waren Zuständigkeiten in der Arbeitsmarkt-, Lohn- und Wohnungsbaupolitik entzogen worden, und das Reichswirtschaftsministerium hatte Schlüsselbereiche wie die Energiepolitik abtreten müssen. Besonders in den Kriegsjahren büßten nahezu alle Reichsministerien erhebliche Kompetenzen ein, und manchen war am Ende der NS-Herrschaft kaum mehr als eine funktionell entkernte Fassade geblieben.
„Seine Darstellung wird keiner politischen Gruppe der Gegenwart viel Freude machen“, prophezeite Klaus Epstein 1963 in der „Historischen Zeitschrift“. Gemeint war die im Jahr zuvor erschienene Habilitationsschrift des jungen Politikwissenschaftlers Kurt Sontheimer, der sich in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre intensiv mit dem rechten „antidemokratischen Denken“ in der Weimarer Republik auseinandergesetzt hatte. In der Tat: Vor allem national-konservativen Kreisen in Wissenschaft und Publizistik musste Sontheimers Buch ein Ärgernis sein. Sein Gegenstand war eben nicht rein historischer Natur. Das Buch handelte von Deutschlands erstem ernstzunehmendem Experiment mit liberaler Demokratie, das gerade einmal 30 Jahre zuvor gescheitert war. Weimar war - mal mehr, mal weniger evident - integraler Bestandteil des bundesrepublikanischen Erfahrungs- und Deutungshorizonts.
Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters
(2006)
Der Titel von Günther Anders’ philosophischem Hauptwerk, das vor 50 Jahren erschienen ist, macht es leicht, die historische Distanz, die uns heute von diesem Buch trennt, mit seinem eigenen Begriff zum Ausdruck zu bringen: Die „Antiquiertheit des Menschen“ erscheint heute selbst in vielerlei Hinsicht antiquiert. Anders’ „Gelegenheitsphilosophie“ (S. 8) blieb auf spezifische Weise an die Gelegenheit ihres Entstehens gebunden. Seine Studie „über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution“, so der Untertitel, ist damit zugleich ein Dokument der Zeitgeschichte und der Biographie ihres Autors. Als solches enthält sie aber auch Anregungen für die Zeitgeschichtsforschung, die durchaus noch aktuell sind.
„Ich kenne kein publizistisches Mittel, das über 40 Jahre lang so kontinuierlich geführt worden ist und im Grunde fast alle wesentlichen Personen oder Persönlichkeiten aus der ganzen breiten Skala des Lebens gezeigt hat.“ Mit diesen Worten eröffnet Egon Bahr die Begleit-DVD zur Edition „klassischer“ Interviews von Günter Gaus aus den Jahren 1963 bis 1972. Bahr verweist damit bereits auf die beiden zentralen Aspekte des Quellenwertes der Interviews: Zum einen sind Gespräche inhaltliche Dokumente, in denen die Befragten über sich selbst und ihre Positionen Auskunft geben. Zum anderen repräsentieren Gaus’ Gespräche ein besonderes Stück Mediengeschichte. Ganz so bruchlos, wie Bahr suggeriert, verlief die Geschichte allerdings nicht. Daher seien zunächst ein paar Daten zur Entwicklung der Sendereihe genannt.
Am 13. Mai 1939, also ein gutes Vierteljahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, ließ Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Massenorganisation Deutsche Arbeitsfront, unter dem Titel „Nachlese und Bilanz vom 1. Mai 1939", in der nationalsozialistischen Tageszeitung „Der Angriff' einen Leitartikel publizieren. ...
„Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939
(2006)
Als Hitler am 6. Oktober 1939 seine Rede im Reichstag hielt, war der Angriffskrieg gegen Polen bereits zu Ende. Am 27. September hatten die Verteidiger Warschaus kapituliert, nachdem die deutsche Luftwaffe und Artillerie die polnische Hauptstadt nahezu verwüstet hatten. Einen Tag später vollzog der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag die Aufteilung Polens, die bereits im geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August beschlossen worden war. Der 1919 errichtete polnische Staat war zerschlagen worden - zum vierten Mal in der polnischen Geschichte.
“Religion, Tugend, Moral und Sittsamkeit sind die Grundpfeiler, auf welchen das große, colossale Gebäude der gesamten Interessen der Nation ruht, und werden diese erschüttert, so stürzt das Gebäude zusammen,” Dieser Satz ist nicht etwa dem Leserbrief eines um das Wohl der Staates besorgten Bürgers, der Denkschrift eines Stadtrates oder einer Broschüre der im Dezember 1848 gegründeten “Inneren Mission” entnommen. Der Satz findet sich vielmehr in einer Petition der (wie sie sich selbst titulierten) “früheren Bordellbesitzer” vom 7, April 1848.
Die Geschichte und Rezeptionsgeschichte von Spielfilmen in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich als eine Konfliktgeschichte beschreiben. Der Beitrag gibt einen Überblick zum Forschungsstand und nimmt mit dem Skandal um Ingmar Bergmans „Das Schweigen“ (1963) einen der Höhepunkte der filmischen Skandalgeschichte in den Blick. Zeitgenössische Kommentatoren sahen die westdeutsche Aufregung um den Film, die sich insbesondere in der Aktion „Saubere Leinwand“ ausdrückte, im internationalen Vergleich als außergewöhnlich an. Eine nähere Betrachtung der internationalen Reaktionen auf „Das Schweigen“ zeigt demgegenüber, dass die bundesdeutsche Empörung keineswegs aus dem Rahmen fiel. Die Darstellung von Sexualität in „Das Schweigen“ wurde länderübergreifend in ganz Europa als ein Tabubruch empfunden. Entscheidend für die unterschiedlichen Rezeptionsweisen war allerdings, in welcher Länge (d.h. mit welchen Schnitten) Bergmans Werk jeweils in die Kinos kam.
Götz Alys neuestes Buch hat erhebliches Aufsehen erregt; die ersten Auflagen waren rasch vergriffen, Aly selbst ein gern gesehener Gast in bundesdeutschen Talk-Shows. Warum dieser Erfolg? Wenn Alys »Volksstaat« so reißenden Absatz fand, dann liegt dies weniger daran, dass er substantiell Neues präsentiert. Dies ist zwar durchaus der Fall, vor allem in den ausgesprochen lesenswerten Teilen II und III seiner Arbeit. Die Medien haben sich jedoch in erster Linie auf die Statements gestürzt, die Aly mit den Schlagworten »Volksstaat« und »nationaler Sozialismus« bereits im Titel seines
Buches anklingen lässt. Sie lassen sich auf folgende Kernthese zuspitzen: Das NS-Regime habe die sozialen Unterschiede eingeebnet. Es sei mit »Härte gegen die Bourgeoisie« vorgegangen und habe »klassenbewußt innenpolitisch die Lasten zum Vorteil der sozial Schwächeren verteilt«. Die NS-Diktatur müsse folglich als »Gefälligkeitsdiktatur« und »Volksstaat« verstanden werden, als eine Art "Diktatur für das Proletariat". Die Hitler-Diktatur sei mithin
den sozialistischen Systemen zuzurechnen, die NS-Propagandisten hätten Recht gehabt, wenn sie ihre Herrschaft als »nationalen Sozialismus« bezeichneten. Der moderne Sozialstaat schließlich sei die weitgehend bruchlose Fortsetzung der rassistischen »Fürsorgediktatur« der Nazis gewesen. Diese These hat Aly in einigen Zeitungsartikeln weiter zugespitzt. Dort spricht er von einer »sozialstaatlichen« oder »kriegssozialistischen Umverteilungsgemeinschaft«, einem »Regime der sozialen Wärme«, das »mit den Reichen weit weniger zartfühlend umgegangen« sei als mit »den gehätschelten Volksgenossen«.