Deutschland
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Elektronisches Publizieren und online verfügbare Quellenbestände haben die Geschichtswissenschaft verändert. Gesunkene Zugangshürden und einfache Suchmöglichkeiten beschleunigen den Blick in Quellen sowie Literatur und verbreitern die empirische Basis. Programme zum Bibliographieren, Recherchieren und Exzerpieren ersetzen den Zettelkasten, strukturieren unser Wissen neu und vereinfachen den Blick über geographische und disziplinäre Grenzen hinaus. In der Geschichtswissenschaft viel weniger bekannt sind dagegen Möglichkeiten zur Untersuchung großer Textkorpora mittels computerlinguistischer Methoden. Solche Forschungen versuchen qualitative und quantitative Analyseschritte miteinander zu verbinden. Dieser Sprung von der »digitalisierten« zu einer »digitalen« Geschichtswissenschaft, die algorithmische Analyseverfahren methodisch innovativ nutzt und reflektiert, ist längst noch nicht vollzogen.
Wie viele andere, inzwischen zumeist und zu Unrecht als randständig behandelte Ideenlieferanten in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- oder 1980er-Jahre ist auch die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Marilyn Ferguson bislang noch kaum in den Genuss historiographischer Weihen gekommen. Im Gegensatz zu den Meisterdenkern der Frankfurter Schule oder liberalen und konservativen Cheftheoretikern sind Ferguson und andere Bezugsgrößen der „Gegenkultur“ und „alternativer“ Lebensweisen nach „1968“ selten zum Gegen-stand der Zeitgeschichtsschreibung geworden – zumal sich diese erst seit wenigen Jahren verstärkt Fragen der Religion zuwendet. Obwohl „Die sanfte Verschwörung“ in deutscher Übersetzung bis 1989 acht Auflagen erreichte und vom „Spiegel“ sehr treffend als „New-Age-Bibel“ bezeichnet wurde, findet sich in keiner der großen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik auch nur ein kurzer Verweis auf dieses Vademekum esoterischer Praktiken und Diskurse.
Angesichts der Vielzahl mittlerweile vorliegender Rezensionen zum vierten Band von Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ sollen dessen Vorzüge und Nachteile hier nicht mehr im Einzelnen abgewogen werden. Vielmehr geht es mir um einen etwas distanzierteren Blick auf die theoretische und methodische Anlage des Buchs. Seine Veröffentlichung fällt nämlich in eine Zeit, in der es als Test für die Leistungsfähigkeit des gesellschaftsgeschichtlichen Projekts Wehlers überhaupt gelesen werden kann: Bildet es doch nicht nur - trotz des noch angekündigten fünften Bandes - den vorläufigen Abschluss einer historiografischen Lebensleistung, sondern fällt auch in die Endphase einer Epoche der deutschen Geschichtswissenschaft, die mit Fug und Recht als Epoche der Sozialgeschichte bezeichnet werden kann. Drei kritische Punkte möchte ich im Folgenden ansprechen: den Stellenwert der Kulturgeschichte, die bei Wehler weiterhin ein Stiefkind der Gesellschaftsgeschichte bleibt, die damit verbundene sozialstatistische Verkürzung der historischen Wirklichkeit sowie die Grenzen der historischen Selbstreflexivität.
Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus – Stand und Perspektiven der Forschung
(2016)
Die Studie bietet eine zusammenfassende Bestandsaufnahme der von Bundesministerien und oberen Bundesbehörden unterstützten Forschungsprojekte zur Geschichte der eigenen Institutionen, die neben der NS-Zeit auch den Umgang mit dieser Vergangenheit in der Nachkriegszeit thematisieren. Darüber hinaus macht sie Vorschläge, bei welchen bislang noch nicht berücksichtigten Einrichtungen eine Untersuchung besonders lohnenswert sein könnte, und skizziert mögliche Perspektiven der weiteren Behördenaufarbeitung.
Der Schlaf scheint auf den ersten Blick eine „anthropologische Konstante“ zu sein. Eine Historisierung der Regeln und Praktiken des Schlafs im 20. Jahrhundert kann jedoch zeigen, wie eng Vorstellungen vom „richtigen“ Schlafen an die Machtstrukturen der Gesellschaft geknüpft waren. Dieser Artikel geht der Frage nach, auf welche Weise Arbeitgeber, Sozialplaner, Ärzte und Psychologen auf den Schlaf und damit auf den Körper, die Arbeitskraft und die Zeit des Individuums zuzugreifen versuchten. Anhand von fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Diskussionen, aber auch von populären Ratgebertexten wird in einem ersten Schritt untersucht, wie und warum der Rhythmus des Schlafs seit Ende der 1920er-Jahre zu einem stark beachteten Thema wurde. In einem zweiten Schritt geht es um die Veränderungen, die der Zweite Weltkrieg im Umgang mit dem Schlaf bewirkte. In einem dritten Schritt wird der entscheidende Bruch in der Mitte der 1950er-Jahre untersucht, der das schlafende und arbeitende Individuum zum Gegenstand einer modernen Schlafforschung und neuer Schlafregeln machte.
Ein Gespenst geht um in der Geschichtswissenschaft: das Gespenst der Quantifizierung. Ringsum wird geklagt, dass Drittmittelbilanzen und Bibliometrie, Evaluierungen und Rankings immer wichtiger werden. Dies gehört zu einer allgemeinen Entwicklung nicht nur in der Geschichtswissenschaft, die Universitäten und außeruniversitäre Forschungsinstitute gleichermaßen betrifft. In Deutschland wird sie besonders mit Bologna-Reformen und Exzellenz-Initiative in Verbindung gebracht, wenngleich die Anfänge dieses Prozesses weiter zurückreichen. Die Geschichtswissenschaft, so scheint es, wurde also bereits mehr oder weniger sanft über die Türschwelle jener von Steffen Mau so bezeichneten »Bewertungsgesellschaft« geschubst, »die alles und jeden einer Bewertung mittels quantitativer Daten unterzieht und damit zugleich neue Wertigkeitsordnungen etabliert«
Dass im Grand Prix d’Eurovision de la Chanson 1982 „ausgerechnet eine deutschsprachige Interpretin mit einem Friedenslied bei den europäischen Nachbarn punktete“, kann nur im Rückblick verwundern. Im Gegenteil, es war ein professionell geplanter Zufall, dass der Produzent und Komponist Ralph Siegel und der Autor Bernd Meinunger mit „Ein bißchen Frieden“ – vorgetragen von Nicole – Erfolg hatten. Das Lied passte offenbar perfekt in die Zeit: Anfang der 1980er-Jahre gehörte „Frieden“ nicht allein in der Bundesrepublik zu den politisch und emotional besonders stark aufgeladenen Begriffen. Die Friedensbewegung mit ihren Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss war omnipräsent. Zudem war Großbritannien, das Gastgeberland des Grand Prix, just im April 1982 in einen „heißen“ Krieg verwickelt (dies hatten Siegel und Meinunger natürlich nicht vorausahnen können). Am Tag nach der Austragung des Wettbewerbs sollte der erste britische Flottenverband im Südatlantik eintreffen, um die kurz zuvor von Argentinien besetzten Falklandinseln zurückzuerobern. Nicole gewann daher auch das sonst deutschen Schlagern gegenüber wenig aufgeschlossene britische Publikum und hielt sich dort (mit der englischen Fassung) 2 Wochen an der Spitze der Charts. Völlig unangefochten holte sie mit 161 von 204 Punkten den Sieg und damit – nach 27 Jahren Grand Prix – diesen Preis zum ersten Mal „für Deutschland“.
Während die Jahrzehnte des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine weitgehend stabile Ordnung geprägt waren, setzte mit dem Sinken wirtschaftlicher Wachstumsraten, dem Zerfall des internationalen Währungssystems und den beiden Ölpreiskrisen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Zeit zunehmender Komplexität unternehmerischer Entscheidungen ein. Statt der bis dahin dominierenden Orientierung an der Produktion wurde der Markt zum wichtigsten Bezugspunkt und die Kapitalrendite zum maßgeblichen Indikator. Am Beispiel des Chemiefaserproduzenten Enka Glanzstoff bzw. dessen Mutterkonzern Akzo wird gezeigt, auf welche Weise der Markt durch die Öffnung der Vorstandsetagen für externe Berater (in diesem Fall von McKinsey) an Bedeutung gewann. Seit den 1970er-Jahren wurden zahlreiche Unternehmen nach kompetitiv gedachten Organisationsprinzipien umstrukturiert. Trotz der Gegenwehr von Gewerkschaften und Betriebsräten schritt damit auch die interne Vermarktlichung von Unternehmen voran. Während die Unternehmen zudem stärker multinational agierten, gelang dies den Arbeitnehmervertretungen nicht in gleichem Maße.
Nach 1989/90 wurde kriegerische Gewalt innerhalb Europas auf neue Weise zum Thema und gerade auch für Intellektuelle zu einer unerwarteten Herausforderung. Die Diskussion unter deutschsprachigen Schriftstellern über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien war hauptsächlich eine Debatte um Peter Handke. Sie fungierte als eine Art Stellvertreterdebatte, während engagierte politische Interventionen deutscher Literaten meist ausblieben. In seinen kontroversen Texten seit 1996 versuchte Handke einen ‚dritten‘ Standpunkt jenseits der zweiwertigen Logik des politischen Diskurses in den Medien zur Geltung zu bringen. Dennoch tendierte sein ‚poetischer‘ Blick auf Serbien zunehmend zur politischen Parteinahme, wie etwa seine Annäherung an den in Den Haag angeklagten serbischen Präsidenten Miloševic zeigt. Obwohl seine Sprache eine Alternative zum ‚herrschenden‘ medialen Diskurs suchte, wurde sie wie die Figur ‚Peter Handke‘ letztlich von den Regeln der politischen Öffentlichkeit absorbiert.
Zwischen 1950 und 1980 wurden Säuglinge in der Bundesrepublik zunehmend mit Flaschenmilch ernährt. Die Produktpalette war groß, und die Werbestrategien der Nahrungsmittelhersteller waren ausgeklügelt. Dies allein kann jedoch nicht der Grund für die steigende Nutzung der Säuglingsflasche gewesen sein. Sie wird hier mit einer explizit dinghistorischen Perspektive untersucht: Wie kam sie in die Familie, und wie veränderte sie die Beziehungen von Müttern, Vätern und Säuglingen? Müttern versprach die Säuglingsflasche mehr Freiheiten in der Gestaltung ihres Alltags; Vätern ermöglichte sie es, ihre Männlichkeit neu zu definieren, indem die Väter ihre Kinder selbst fütterten. Eher als in der Bundesrepublik wurde in Schweden die Versorgung von Kleinkindern diskutiert und eine stärkere Mitverantwortung der Männer für die Familie gefordert. Für beide Länder lässt sich beobachten, dass die Säuglingsflasche – zusammen mit anderen Akteuren – die Familie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgestaltete. In beiden Ländern verlief dies durchaus kontrovers.