Geschichtstheorie(n)
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Authentizität (Version 1.0)
(2010)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Authentizitätsbegriff zu einem allseits verwandten Schlagwort gewandelt. Über Authentizität wird heutzutage in vielen kulturwissenschaftlichen Disziplinen gesprochen: in der Psychologie, der Pädagogik, der Soziologie, der Ethnologie, den Politikwissenschaften, der Philosophie und selbstverständlich in den Kunstwissenschaften und der Ästhetik. Der schillernde Authentizitätsbegriff hat auch den Bereich der Geschichtsschreibung und der Zeitgeschichte erfasst, und doch ist Authentizität keinesfalls ein zeithistorischer Grundbegriff.
Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?“ im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte“ allerdings auf einer postmodernen Position. Vilém Flusser oder Jean Baudrillard etwa behandelten unter diesem Schlagwort den Verlust von Sinn- und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft. Fukuyama hingegen knüpfte an eine andere Tradition mit politisch konservativem Hintergrund an, wie sie beispielsweise von Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Hendrik de Man vertreten worden war. Vor allem berief er sich auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als Setzung eines Endpunkts der Geschichte gedeutet und später die amerikanische Lebensart als die Lebensform des Menschen nach dem Ende der Geschichte bezeichnet hatte.
Saul Friedländer, der im Oktober 2007 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, hat für sein jüngstes Buch „Die Jahre der Vernichtung“ einhelliges Lob erhalten. Dabei wurde vor allem hervorgehoben, dass Friedländer die Stimmen der jüdischen Opfer zu Wort kommen lasse. Doch verdeckt dieses Lob, so gut es gemeint ist, eine wichtige Differenz. Friedländer, der 1932 in Prag geboren wurde, 1939 mit seinen Eltern nach Frankreich flüchtete, dort als Junge in einem katholischen Internat die deutsche Besetzung und Judenjagd überlebte, während seine Eltern auf der Flucht verhaftet und in Auschwitz ermordet wurden, Friedländer hat diese Stimmen der Verfolgten und Ermordeten noch gehört - wir Jüngeren nicht. Der offenkundige Wunsch zahlreicher Rezensenten, sich in Hörweite der Opfer zu versetzen, muss scheitern. Die Stimmen bleiben stumm. Und auch wenn Friedländers historiographische Kunst darin besteht, uns lesen und ahnen zu lassen, wovon die Stimmen sprechen, so ist diese Fremdheit doch unübersteigbar.
Das Fremde denken
(2008)
Das Fremde ist einerseits etwas Uraltes, andererseits etwas höchst Aktuelles. Was das Uralte angeht, so genügt es, auf zwei Quellen der westlichen Kultur hinzuweisen. In Mose 2,22 heißt es: „Die Fremdlinge sollst du nicht schinden und drücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.“ Es ist ein Gebot, das auf eine vorherige Erfahrung hinweist, nämlich auf das Exil, von dem das Jüdische bis in die Gegenwart gezeichnet ist. Bei den Griechen trägt Zeus den Beinamen xenios - der Gott, der das Gastrecht schützt. Wie eng Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft beieinander wohnen, zeigt sich in der schillernden Bedeutung der lateinischen Wörter hostis und hospes. Hat die Aktualität der Fremdheitsproblematik überhaupt etwas mit diesen alten Traditionen zu tun? Vielleicht könnte das Denken des Fremden - speziell aus Sicht der Philosophie - darauf eine Antwort geben, gerade weil sich dieses Denken weder auf sicher vorhandene Traditionen stützt noch in Tagesfragen aufgeht.
Ausblick. Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR
(2008)
Netzwerktheorien sind aus den technischen Disziplinen und aus der allgemeinen Systemtheorie, aus den Naturwissenschaften, aus Ökonomie und Soziologie auch in die Geschichtswissenschaft „hineingewandert“. Die einschlägige Forschung hat sich, hierfür ist der vorliegende Band ein Beleg, in den letzten beiden Jahrzehnten stark verdichtet und ausdifferenziert. Sie hat damit allerdings auch eine Mode welle generiert: vor allem in kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten wird der Netzwerk-Begriff ausufemd, oft mit unverkennbar normativer Konnotierung (Netzwerk als „guter“, weil angeblich nichthierarchischer Modus von Vergesellschaftung) verwendet. Häufig degeneriert er zur vagen Metapher, generell wird als analytisches Passepartout überschätzt.
„Die Kosten, die beim ‚Transfer‘ theoretisch fundierter Geschichtswissenschaft zum lesenden Publikum durch Fachjargon und Abstraktion entstehen könnten, dürfen zwar nicht übersehen werden; umgekehrt sind die Nachteile traditioneller Geschichtsschreibung, z.B. in Schnabels ‚Deutscher Geschichte im neunzehnten Jahrhundert‘, so deutlich zu erkennen, daß ich bei einer Güterabwägung die Vorzüge einer explizit theoretisch argumentierenden Geschichtswissenschaft für größer als eventuelle Verständigungsschwierigkeiten halte.“ (Hans-Ulrich Wehler, Diskussionsbeitrag, S. 170). Neuerliche Lektüre steckt nicht selten voller Überraschungen. Das ist auch bei der Wiederannäherung an die „Theorien in der Praxis des Historikers“ der Fall. Als junger Bielefelder Student hatte ich den Sammelband von 1977 neugierig verschlungen, ehe, gegen Ende der Studienzeit, das Unbehagen an gewissen Grenzen des Bielefelder Theoriebegriffs gewachsen war und die Suche nach befriedigenderen konzeptionellen Entwürfen losging.
Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien
(2004)
Anknüpfend an Hans Rothfels` klassische Definition der Zeitgeschichte als ,Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" wird das Verhältnis der auf analogen Aufzeichnungsverfahren basierenden audiovisuellen Medien zur heutigen Zeitgeschichtsforschung diskutiert. Die Durchsetzung des sozialen Gebrauchs dieser Medien ist Teil des Übergangs zur Konsumgesellschaft im 20. Jahrhundert. Zu fragen ist: Wie verändert sich die Kategorie der ,Mitlebenden", wenn sie als Menschen zu denken sind, deren Realitätsbezüge und Erinnerungen in hohem Ausmaß durch den alltäglichen Gebrauch von audiovisuellen Medien bestimmt sind? Die Ausbreitung dieser Medien beendete die Hegemonie der schriftlichen Kommunikation, die auch der akademischen Disziplin ,Zeitgeschichte' zu Grunde lag. Um ihre gesellschaftliche Kompetenz zu bewahren, muss Zeitgeschichte die audiovisuellen Medien daher umfassend in ihre Praxis integrieren - von der Forschung über die öffentliche Kommunikation bis hin zur Lehre.
„Die Geschichte kehrt an ihre Schauplätze zurück, wird anschaulich und lebendig - und rückt wieder in die Nachbarschaft großer Literatur“, heißt es im Klappentext von Karl Schlögels Buch „Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“. Dies ist konventionelle Verlagswerbung, charakterisiert die Arbeiten des 1948 geborenen Historikers aber sehr treffend. Schlögel, der seit 1994 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) innehat, bemüht sich seit langem darum, die Städte und Regionen des östlichen Europas wieder ins westliche Bewusstsein zu bringen, und er tut dies auf eine Weise, die nicht nur für das Fachpublikum interessant ist.1 Für seine Bücher hat Schlögel diverse Auszeichnungen erhalten; in diesem Herbst werden ihm der Georg-Dehio-Preis des Deutschen Kulturforums östliches Europa sowie der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.
Der Untergang des Kommunismus war vor allem ein ökonomischer Vorgang; in gewisser Hinsicht kann man auch sagen, die Geschichte habe die Unmöglichkeit eines ökonomischen Experimentes gezeigt. Aber er wurde und wird auf sehr eigentümliche Weise erinnert. Ein großer Teil der öffentlichen Erinnerung bezieht sich vor allem auf die Gerontokratie der Parteiherrschaft und klammert eine Auseinandersetzung mit der Frage weitgehend aus, ob es nicht doch sehr viel grundsätzlichere Punkte waren, die das kommunistische Experiment haben scheitern lassen. Diese Schieflage der Erinnerung ist nicht zufällig: Nur so kann der Untergang des Sozialismus erklärt, aber zugleich die Utopie einer nichtkapitalistischen Alternative aufrechterhalten werden. Und das ist gerade gegenwärtig sehr populär!
Aus der Veranstaltungsankündigung: „Im politischen Denken von Marx und Engels gibt es einen archimedischen Punkt: Es sind die verallgemeinernden Rückschlüsse, die die Begründer des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ aus der Französischen Revolution von 1789 zogen. Wie tragfähig waren die von ihnen postulierten Analogien zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution? Welche praktischen Konsequenzen leiteten sie und später Lenin und die russischen Bolschewiki daraus ab? Was kann die revisionistische Marx-Kritik zum Verständnis des „Ausbleibens der Revolution in den Industriegesellschaften“ (Richard Löwenthal) und zum Wandel der Revolution im 20. Jahrhundert beitragen?"