Geschichtstheorie(n)
Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien
(2004)
Anknüpfend an Hans Rothfels` klassische Definition der Zeitgeschichte als ,Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung" wird das Verhältnis der auf analogen Aufzeichnungsverfahren basierenden audiovisuellen Medien zur heutigen Zeitgeschichtsforschung diskutiert. Die Durchsetzung des sozialen Gebrauchs dieser Medien ist Teil des Übergangs zur Konsumgesellschaft im 20. Jahrhundert. Zu fragen ist: Wie verändert sich die Kategorie der ,Mitlebenden", wenn sie als Menschen zu denken sind, deren Realitätsbezüge und Erinnerungen in hohem Ausmaß durch den alltäglichen Gebrauch von audiovisuellen Medien bestimmt sind? Die Ausbreitung dieser Medien beendete die Hegemonie der schriftlichen Kommunikation, die auch der akademischen Disziplin ,Zeitgeschichte' zu Grunde lag. Um ihre gesellschaftliche Kompetenz zu bewahren, muss Zeitgeschichte die audiovisuellen Medien daher umfassend in ihre Praxis integrieren - von der Forschung über die öffentliche Kommunikation bis hin zur Lehre.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war der Abschied von einem bedingungslosen Fortschrittsglauben gekommen. Die Erfahrungen des Stellungskrieges und der Materialschlacht munitionierten die Fortschrittskritik. Die universitäre Etablierung des Fachs Volkskunde im Jahr 1919 war seit den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Zeitschriften, Kongresse und museale Sammlungen vorbereitet und von der »Suche nach dem Elementaren in der Kultur« begleitet worden. Die Hinwendung zu den Dingen, vor allem zu Arbeits- und Hausgerät aus europäischen Reliktgebieten, spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Frage nach ihrer Bedeutung und Sinnaufladung verdichtete sich mit der Disziplinierung, auch wenn die Erforschung der materiellen Kultur nicht der einzige Gegenstand des Faches war, das sich aus den Philologien herausbildete. Geht man davon aus, dass das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« ist, weil die industrielle Massenproduktion die Verfügbarkeit sowie den Verbrauch der Dinge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immens steigerte, dann führt der Weg zu der intensivierten Aufmerksamkeit für die Dinge des Alltags in Kunst, Literatur und Wissenschaft in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
In Auseinandersetzung mit Jörn Rüsens „vier Typen des historischen Erzählens“ (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) wird ein fünfter Idealtypus zu begründen versucht, der sich aus gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie der Emergenz digitaler Medien ergibt. Das „situative Erzählen“ als neuer Modus der historischen Sinnbildung antwortet zum einen auf Formen der Identitätskonstruktion innerhalb einer „flüchtigen Moderne“, deren Kennzeichen die Absage an „große Erzählungen“ und die Auflösung stabiler Identitäten sind. Zum anderen wird diese Erzähl- und Sinnbildungspraxis durch hypertextuelle Kulturtechniken codiert, ausgestaltet und prämiert. Der Beitrag nennt einige historiographische Ansätze des „situativen Erzählens“ und fragt nach den Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.
Mit Christian Geulens „Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“ möchten wir eine Diskussion eröffnen zu den möglichen Konturen einer Historischen Semantik des vergangenen Jahrhunderts sowie zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Begriffsgeschichte. Als Beitrag zur Historisierung und epochalen Charakterisierung der „Hochmoderne“ skizziert Geulen das Programm einer begriffsgeschichtlichen Grundlagenforschung, die zugleich als Vorstoß zur wissenschaftsgeschichtlichen Erschließung der eigenen Disziplin zu verstehen ist. Nach dem editorischen Abschluss der lexikalischen Großforschungsprojekte der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (1972–1992), des „Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820“ (1985–2000), des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ (1971–2007) und der „Ästhetischen Grundbegriffe“ (2000–2005) beginnt soeben erst eine Rückschau auf die begriffsgeschichtliche Fundierung der deutschsprachigen Geisteswissenschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Es Ist ein fragend-tastendes sich Annähern an eine historiografische Perspektivumkehr, wie sie aus den zitierten Zeilen von Tony Bennett und Patrick Joyce spricht. Beide haben mit „Material Powers" einen der Bände herausgegeben, die hier zur Diskussion stehen. Für manche Historikerinnen und Historiker mag der,material turn1 eine „Provokation“ bedeuten (so der Untertitel einer Sektion zu Geschichte und Materialität auf dem Historikertag 2012 in Mainz). Doch beweist die gegenwärtige (Wieder-)Annäherung unterschiedlicher kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen an die Dimension Materialität, dass Jahrzehnte einer perspektivischen Ent-Materialisierung als Defizit wahrgenommen werden - der Archäologe Bjornar Olsen spricht von einer „kollektiven Amnesie“ der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften gegenüber dem Materiellen.
Hoffnung auf Erfolg. Akteurszentrierte Handlungskonzepte in der Migrations- und Flüchtlingsforschung
(2018)
Die Herausforderung besteht somit in einer reflektierten Verbindung von historischer Wissens- und Migrationsforschung.[37] Darin könnte die Chance liegen, die oftmals eindimensionale Wahrnehmung von Migrant/innen als Opfer restriktiver Grenzregime aufzubrechen, denn sie blockiert tendenziell eher Erkenntnismöglichkeiten, als dass sie neue eröffnet. Wenn ein Konzept wie Eigen-Sinn dazu beitragen würde, die verengten Perspektiven auf Migrationsregime zu erweitern, wäre das nur zu begrüßen. Allerdings spricht die bisherige Inanspruchnahme des Begriffes dafür, doch eher auf andere handlungstheoretische Konzepte wie die Analyse von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen zurückzugreifen oder einer an die Arbeiten von de Certeau angelehnten und auf globale Migrationsbewegungen zugeschriebenen »Rhetorik des Wanderns« zu folgen. Eines zeichnet sich indes jetzt schon ab: Ohne eine stärkere und theoretisch durchdachte Berücksichtigung akteurszentrierter Konzepte wird die Migrationsforschung zentrale Aspekte ihres Gegenstandes weiterhin nur oberflächlich erfassen können.
Als Francis Fukuyamas Essay „The End of History?“ im Sommer 1989 in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien, brach ein Sturm der Empörung los. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ hatte zwar gerade Konjunktur; so kamen in der Bundesrepublik 1989 gleich zwei Bücher heraus, die dieses Thema kritisch beleuchteten. Meist gründete das Interesse an einem „Ende der Geschichte“ allerdings auf einer postmodernen Position. Vilém Flusser oder Jean Baudrillard etwa behandelten unter diesem Schlagwort den Verlust von Sinn- und Wirklichkeitsbezügen in der multimedialen Kommunikationsgesellschaft. Fukuyama hingegen knüpfte an eine andere Tradition mit politisch konservativem Hintergrund an, wie sie beispielsweise von Arnold Gehlen, Ernst Jünger und Hendrik de Man vertreten worden war. Vor allem berief er sich auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als Setzung eines Endpunkts der Geschichte gedeutet und später die amerikanische Lebensart als die Lebensform des Menschen nach dem Ende der Geschichte bezeichnet hatte.
Es liegt gleichsam auf der Hand, dass Sicherheit immer auch eine räumliche Dimension aufweist – „Territorialisierungsdynamiken“, so stellte der Historiker Eckart Conze fest, „sind über weite Strecken Sicherheitsdynamiken.“ Schon der Geograph Robert Sack fasste Territorialität als ein Bestreben von Individuen oder Gruppen, im Raum auf Personen, Phänomene und Beziehungen ordnend einzuwirken. Durch die Begrenzung eines geographischen Gebiets werde versucht, eine regulative Kontrolle durchzusetzen. Umso mehr erstaunt daher, wie wenig dieser offensichtliche Wechselbezug zwischen Räumlichkeit und Sicherheit in der Theoriediskussion bislang reflektiert worden ist. Dieser Beitrag möchte aus historischer Perspektive einzelne Ansätze systematisch aufeinander beziehen. Er wird zunächst einen kurzen Überblick über die fragmentierte Theorielandschaft geben, um dann am Beispiel zentraler interdisziplinärer Forschungsfelder neue Perspektiven für einen integrierten Gesamtansatz zu erschließen.
»WAS IST WAS« – hinter diesem etwas kryptischen Titel verbarg sich für Kinder und Jugendliche der 1960er- bis 1980er-Jahre das Wissen der Welt. Mindestens einige dieser etwa 40-seitigen Bildbände über »Dinosaurier«, »Das Weltall«, »Seeschlachten«, »Das Mittelalter«, »Autos« »Päpste« oder »Insekten« standen in so gut wie jedem westdeutschen Kinderzimmer. Und wer sie besaß, wird zugeben müssen, noch heute von diesem Wissen zu zehren. »WAS IST WAS« war die deutsche Variante einer amerikanischen Kindersachbuchreihe, die unter dem Titel »How and Why – Wonderbooks« seit den 1950er-Jahren erschien. Der Nürnberger Tessloff-Verlag erwarb die Rechte an diesem Titel, übersetzte ihn in »WAS IST WAS« und brachte die ersten vier Kindersachbücher 1961 heraus (zunächst als Zeitschriftenreihe, ab 1963 dann in Buchform). Über 140 Bände sind bisher erschienen, und viele von ihnen sind in aktualisierten Neuauflagen weiterhin lieferbar. Die Reihe ist nicht abgeschlossen, inzwischen aber multi-medialisiert – und sie hat Konkurrenz bekommen.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.