20. Jahrhundert
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When does stress – understood as a bodily and psychological condition connected to rapid social change and the pressure to perform – become a social concern? Previous historical research has situated the topic exclusively in the West: stress as a characteristic condition of what is understood to be Western capitalism. Using the examples of the state socialist GDR and Czechoslovakia in the 1960s – 1980s, this contribution demonstrates how stress became a broad social concern in a non-liberal, noncapitalist context. It thereby challenges the notion that stress is a Western phenomenon, proposing instead to see it in the context of developed and “multiple” modernities.
This paper conceptualizes the history of the future in the twentieth century. The present future is always multi-faceted: produced by diverse actors, it concerns different aspects of the world, and is articulated in many ways. We suggest a divergence from the Koselleckian notion of a unified horizon of expectation. Rather than concentrating on the contents of visions of the future, we focus on the processes by which the future is generated. Distinguishing between futures of expectation, creation, risk, and conservation, we offer both a systematic account and a heuristic to analyze the pluralization of the future in the twentieth century.
In diesem Aufsatz soll es indessen weniger um den relativen, in der Gerontologie ausgehandelten Stellenwert von der Länge des Lebens einerseits und seiner Qualität und Sinnhaftigkeit andererseits gehen. Was uns beschäftigen soll, ist stattdessen die besondere Form der Zukunft oder, wenn man so will, der besondere Zukunftsbegriff, der sich in Baltes' Text sowie in wissenschaftlichen Studien wie der »Berliner Altersstudie« zu Wort meldet. Dem Aufsatz liegt die Vermutung zugrunde, dass »Alter« und »Altersforschung« zu den wichtigsten »gesellschaftliche Zukunftsformen« des 20. Jahrhunderts gehören, deren Generierungs-, Wirkungs- und Entwertungsmechanismen unbedingt identifiziert und analysiert werden müssen.
»Arm« und »Reich« waren keine dominierenden zeitgenössischen Klassifizierungen, um die soziale Ordnung der späten Sowjetunion zu beschreiben. Zumindest sind sie dies in den rückblickenden Erzählungen ehemaliger Sowjetbürger nur selten explizit. Da die Repräsentationen der sowjetischen sozialen Ordnung unmittelbar mit Bewertungen der gegenwärtigen Gesellschaft verbunden sind, rücken sie ganz überwiegend den Aspekt der verlorenen sozialen Gleichheit in den Mittelpunkt. Den Repräsentationen liegen rückblickende Klassifizierungen zugrunde, die von nostalgischen Erzählstrategien geprägt werden. Von den drei Idealtypen nostalgischer Erzählstrategien – restaurativ, reflexiv und synthetisierend –, die hier den analytischen Bezugsrahmen bildeten, dominierte die restaurative. Sie konstruiert traditionale Zugehörigkeiten und knüpft an das erinnerungspolitische Narrativ der »Goldenen 70er Jahre« an. Es lässt weniger Raum für ambivalente Wahrnehmungen der vergangenen sowjetischen Gesellschaft und betont den Verlust der alten Werteordnung.
Unter dem Einfluss der politischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre entstand die historiographische Teildisziplin der Umweltgeschichte der Sowjetunion. Zunächst arbeitete sie sich an Begriffen wie „Ökozid“ und „Ökonationalismus“ ab. Jüngere Forschungen aus regional-, imperialund globalhistorischer Perspektive haben neue Themen erschlossen. Die Umweltgeschichte demonstriert, wie sehr der Mensch als soziales Wesen in seinem Handeln von der Spannung geprägt ist, seine Umwelt beherrschen zu wollen, sich aber aus seiner Einbindung in Naturkreisläufe
nicht befreien kann.
Globale Daten in lokalen Speichern. Ethnographische infrastrukturelle Zugänge zum World Wide Web
(2015)
Wie in anderen Kultur- und Sozialwissenschaften so ist auch in der Europäischen Ethnologie das Interesse an den materiellen Dimensionen des sozialen und kulturellen Lebens im letzten Jahrzehnt gestiegen. So wurde zum einen im Sinne der bereits vor Jahren im Fach angestoßenen Diskussion die Betrachtung von Dingen als bloßen Repräsentationen und Symbolen gesellschaftlicher Prozesse und Phänomene als unzureichend kritisiert und die Eigenständigkeit von materiellen Objekten sowie die wissens- und realitätsstiftenden Funktionen ihrer Materialität hervorgehoben. Zum anderen erstarkte in der Fachdiskussion das Bewusstsein, dass die Betrachtung von einzelnen Dingen in lokalen Kontexten nicht immer ausreicht, um soziokulturelle Prozesse in der globalisierten Welt zu verstehen und ethnographisch zu greifen. Diese verengte Perspektive muss durch ein breiteres, relationales Verständnis von Materialität und um die Untersuchung komplexer, grenzüberschreitender sozio-materieller Konstellationen ergänzt werden.
Die Digitalgeschichte ist in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen. Unter Digitalgeschichte verstehen wir eine neue historische Perspektive auf die fundamentale Umwälzung klassischer historischer Kategorien wie beispielsweise Raum, Zeit, Identität, Arbeit oder Nationalstaat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Digitalgeschichte beschränkt sich nicht nur auf die Computergeschichte als Geschichte eines spezifischen Artefaktes, sondern umfasst alle auf binärdigitaler Codierung basierenden, elektronischen Technologien, beispielsweise auch Kommunikationsnetzwerke oder Mensch-Maschine-Hybride. Sie ist das deutsche Pendant zur englischen history of computing, hingegen mit dezidiertem Schwerpunkt auf die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart.
Die Etablierung des Computers zählt zu den wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen der jüngeren globalen Zeitgeschichte. Bereits seit den 1950er Jahren setzten auch in Deutschland große Unternehmen, Behörden und ebenso das Militär Computer ein, bevor in den 1980er Jahren die flächendeckende Ausbreitung der Personal Computer (PCs) begann. Die Zeitgenossen diskutierten von Beginn an die Folgen der Computerisierung und bewerteten sie als einen tiefgreifenden Umbruch, etwa als Beginn der »Informationsgesellschaft« oder »dritte industrielle Revolution«. Rasch galt die Verbreitung von Computern als ein ambivalent gedeuteter Wandel: Sie galten als Motor eines ökonomischen und gesellschaftlichen Aufbruchs und als Ursache für eine krisenverstärkende Rationalisierung und Überwachung. Jenseits der Diskurse wurde in vielen gesellschaftlichen Bereichen rasch spürbar, dass der Computereinsatz soziale Realitäten veränderte.
Der vergessene »Brotkasten«. Neue Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des Heimcomputers
(2019)
Kaum eine Technologie prägt unseren Alltag so sehr wie der Mikrocomputer. Die Historisierung dieses technischen Mediums, der Umstände und Folgen seiner sozialen Implementierung sowie seiner Nutzungsarten ist überfällig. Der Computer in Privatbesitz ist fester Teil nicht nur unserer Gegenwart, sondern auch jener Epochen, die schon längst »historisch« geworden sind und deren Analyse zum Standardrepertoire der Zeitgeschichte gehört. Es ist schon über 40 Jahre her, dass in den USA in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Computerbausätze für Bastler kursierten, darunter der erste Computer aus dem Hause Apple, und bald darauf auch die ersten Fertiggeräte fürs Zuhause. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, während der letzten Eskalationsetappe des Kalten Kriegs, lagen erschwingliche Heimcomputer unter Hunderttausenden von westeuropäischen Weihnachtsbäumen und prägten das Leben zahlloser Jugendlicher. Auch im Ostblock waren Heimcomputer schon Jahre vor dessen Zusammenbruch präsent. Kurzum: Der Computer als technisches Medium, als Konsumgut und als Alltagsobjekt prägte bereits jene Epochen, bei denen ein Konsens darüber herrscht, dass sie ein legitimer Gegenstand der historischen Forschung sind.
The introduction to this issue on historical surveillance studies argues for an integrated understanding of surveillance that focuses on the interconnectedness of the state, economy and sciences within the context of different forms of technological revolution. It suggests reading contemporary diagnoses of ‘total surveillance’ from a long-term historical perspective beginning in the seventeenth century. In this light, surveillance is not limited to intelligence history or state control. Rather, it produces patterns of order and data that can be deployed for political processes like urban planning, welfare policy, crime prevention, or the persecution of political opponents. Furthermore, surveillance is also part of the economy, encompassing market and consumption research, advertising, and workplace monitoring. Research into the political and the economic aspects of surveillance should be combined. After defining the term ‘surveillance’ and differentiating between security and surveillance studies, the article provides an overview of different empirical studies in this new historiographical field. It concludes with short summaries of the articles collected in this issue.
Sind die staatssozialistischen Diktaturen an einem Übermaß an „Sicherheit“ gescheitert? Gewöhnlich werden ja eher die verschiedensten Formen des Mangels als Grund für ihren Niedergang angeführt. Es fehlte an Vielem und an allen Ecken und Enden: an individuellen Freiheiten, an Konsumgütern, und schließlich auch den Kommunisten selbst an Zukunftsperspektiven. Selbstverständlich lässt sich argumentieren, dass das eine mit dem anderen zusammenhing. Eine umfassende, die Gesellschaft durchherrschende Politik der Sicherheit nach außen und innen verschlingt beträchtliche Ressourcen für Infrastrukturen, Schutz- und Waffensysteme sowie für die alltäglich zu verrichtenden Tätigkeiten des Überwachens, Kontrollierens und Disziplinierens. Weit vorausschauende vorbeugende Gefahrenabwehr hat ihren Preis, wenn sie allzu enge Grenzen setzt: Sie schränkt die Entfaltung und Selbstbestimmung vieler Individuen ein und kann Kreativität und Unternehmungsgeist behindern, Innovation und damit auch Produktivität und Wachstum hemmen. Wiewohl umfassende Sicherheit kurzfristig der Legitimität eines Regimes zu Gute kommen mag, können ihre Kosten und Nebenwirkungen auf Dauer die soziale Entwicklung behindern und so zum Legitimitätsverlust beitragen.
Der Tonfall war alarmistisch. »Der Staat«, so proklamierte der sozialdemokratische Politiker Erhard Eppler, »der von seinen Bürgerinnen und Bürgern erwartet, daß sie sich ihre Sicherheit am Markt kaufen, wohl wissend, daß nur wenige dies können« verdiene »seinen Namen nicht« mehr. Es schien Eppler die »verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Staates« zu sein, das »Grundbedürfnis aller Menschen, nicht dauernd in Angst zu leben« zu erfüllen; man müsse daher zwingend darauf bestehen, »daß die Polizei in [einem] Arbeiterwohnviertel genauso patroulliert [sic] wie im vornehmeren, daß ein Einbrecher hier genauso viel riskiert wie dort, daß es keine Viertel« gebe, »wo die Polizei sich allenfalls bei Tage, und dann nur in Rudeln, blicken läßt und andere, wo sie zugunsten privater Dienste abgedankt« habe. Im Jahr 2002 veröffentlichte der Parteilinke seine Streitschrift »Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?«, in der er gegen eine zunehmende Erosion staatlicher Kernkompetenzen anschrieb, die gegenwärtig vor allem aus ökonomischen Motiven grundsätzlich zur Disposition gestellt würden. Insbesondere »Privatisierung und Kommerzialisierung« bzw. eine rasch voranschreitende »Ökonomisierung« erschienen Eppler als existenzielle Bedrohungen des modernen Staates und seines fundamentalen Daseinszweckes, der Sicherheitsgewährung für seine Bürger durch das staatliche Gewaltmonopol. Durch die »Kommerzialisierung der inneren Sicherheit« werde diese zu einer »Ware am Markt« oder gar einem »Luxusgut«.
Wer sich mit der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung auseinandersetzt, kommt an der Zäsur 1800 nicht vorbei. Zwar existieren bereits seit der Antike Formen populärwissenschaftlicher Literatur, die im Zuge der wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung erfahren, doch beginnt der eigentliche Aufstieg im frühen 19. Jahrhundert, als die Wissenschaftspopularisierung ihre Präsentationsformen einem breiten Publikum anpasst (vgl. Schwarz 1999, 89f.). In dieser Zeit wird es nicht nur üblich, von populärer Sprache und populären Vorträgen zu sprechen. 1805 erscheint auch die erste deutschsprachige Theorie der Popularität (Greiling 1805). Der Text stellt eine Art didaktischer Unterweisung in Hinsicht auf Anordnung, Sprache und Verständlichkeit vorgetragener Sachverhalte dar. Während Popularität hier auf das Predigen und die Volksaufklärung bezogen bleibt, rückt sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam in die Nähe der (Natur-)Wissenschaft. Der Ausdruck „populär“3 etabliert sich als geläufige Bezeichnung für „gemeinfassliche“
naturkundliche Buch- und Zeitschriftenliteratur. In Wörterbüchern und Lexika, Vereinsnamen und Publikationstiteln setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich die Wortverbindung „populärwissenschaftlich“ durch.4 Sie eignet sich sowohl für die literarische Selbstbezeichnung als auch zur Markierung bestimmter Schriften, thematischer Genres und Darstellungsformen, welche dem Anspruch folgen, naturkundliche und technische Wissensbestände an ein breites Publikum zu vermitteln.
Jenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung
(2018)
Nicht erst seit dem »langen Sommer der Migration« 2015 spielen Flucht und Zuwanderung in Politik und Wissenschaft eine zentrale Rolle. Der Migrations-
forschung kommt dabei die Aufgabe zu, das über Migration zirkulierende Wissen – zu dem sie maßgeblich beiträgt – kritisch zu reflektieren. Wie auch in anderen Ländern zeichnete sich die Migrationsforschung in der Bundesrepublik lange Zeit durch ihre starke Policy-Nähe aus. Sie hat sich in der Bundesrepublik seit den frühen 1970er-Jahren dem »Ausländerproblem« zugewendet beziehungsweise es als solches mit konstituiert, und zwar in den Parametern der Politik, des Arbeits- und Wohnungsmarkts und sukzessive weiterer gesellschaftlicher Teilbereiche. Einflussreiche Migrationsforscherinnen und -forscher wie der Soziologe Hartmut Esser fungierten als »Berater und Stichwortgeber der Politik« und lieferten anwendungsorientiertes Wissen für die staatliche Steuerung und Regulierung von Migration. In diesem Sinne ist Michael Bommes und Dietrich Thränhardt zuzustimmen, wenn sie Migrationsforschung als »rather a part of the complex of problems that it claims to describe and explain« beschreiben. Die neueren Debatten über Migration in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zielen daher verstärkt auf eine kritische Reflexion des gegenwärtigen Verständnisses von und des Umgangs mit Migration ab und beziehen auch die eigene Wissensproduktion in diese Reflexion ein.
Der „Normalfall Migration“ (Bade/Oltmer 2004) ist in Forschung und Publizistik längst ein Gemeinplatz geworden und dennoch – die Ankunft eines Bruchteils der globalen Fluchtbewegungen stürzte Europa in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal in eine politische und legitimatorische Krise. Von nie dagewesener Fluchtmigration war die Rede und vielerorts drohte wieder einmal der Untergang des Abendlands oder zumindest umfassendes Chaos (exemplarisch dokumentierend: Neumann 2015). Angesichts der verbreiteten – und empirisch gerechtfertigten – Etikettierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ (Opitz 1999) erstaunt diese kurzsichtige Wahrnehmung, ebenso vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung, die Migration für die europäische Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts spielte (Bade 2000; Moch 1992). Flucht- und Gewaltmigration ist vielleicht nicht der migrationshistorische Normalfall, aber ein wiederkehrendes Phänomen (Oltmer 2017). Gleiches gilt für die Debatten um die Aufnahme von „echten“ und die Abwehr von vermeintlich „falschen“ Flüchtlingen. Die Unterscheidung, welche Migrationsformen eher als Flucht und welche eher als freiwillige Bewegung zu sehen seien, ist – und war – stets interessengeleitet. Zugleich ist die Entscheidung zur Migration in aller Regel einer Vielzahl von Motiven unterworfen, die mal eher Zwangs-, mal eher den Charakter freiwilliger Entscheidung haben (Tilly 1978; Lucassen, Lucassen 2005). Hierzu gehören insbesondere auch Folgewanderungen, die nach dem Ausweichen vor direkter Gewalt den weiteren Weg bestimmen.
Das Journal of Refugee Studies (JRS) ist die wichtigste internationale Fachzeitschrift im Bereich der Flüchtlingsforschung. Seine Gründung im Jahr 1988 trug maßgeblich zur Konsolidierung der Flüchtlingsforschung als eigenständiges Forschungsfeld bei. In diesem Aufsatz reflektiere ich die 29jährige Geschichte des JRS. Ich interessiere mich insbesondere für den Anspruch des JRS, fächerübergreifend zu sein, für seine Reputation als Forum für politikrelevante, angewandte Forschung und für die Rolle, die Flüchtlingen in der Zeitschrift eingeräumt wurde. Ausgehend von der Überlegung, dass heute im JRS in erster Linie über Flüchtlinge geschrieben wird, schlage ich vor, ein Experiment aus den Anfangsjahren des JRS zu wiederholen und Flüchtlinge (wieder) selbst zu Wort kommen zu lassen. Ausgehend von meiner Lektüre der letzten 29 Jahrgänge des JRS gebe ich der Hoffnung Ausdruck, dass in einer neugegründeten Fachzeitschrift wie der Z’Flucht theoretisch ambitionierten Aufsätzen, deren Erkenntnisse auf einer breiten empirischen Basis beruhen, gebührend Platz eingeräumt wird, und dass AutorInnen zu einer rigoros selbstkritischen Herangehensweise an ihre Themen ermutigt werden.
Vertreibung, Flucht und Wanderungsbewegungen sind Phänomene, die es wohl zu allen Zeiten gegeben hat. Vor dem Beginn der Ära der Nationalstaaten wurden Flüchtlinge und Einwander*innen nicht selten als Bereicherung empfunden, da sie Informationen über andere Länder und Kulturen, Sitten und Gebräuche mitbrachten. Im Mittelalter war in Europa eine universalistische Philosophie vorherrschend, die Flüchtlingen im Allgemeinen positiv gegenüberstand. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden im späten 18. Jahrhundert bekanntlich auch von Flüchtlingen gegründet, die Europa verlassen hatten, weil sie hier kein Recht auf Religionsfreiheit gefunden hatten oder in anderer Hinsicht unterdrückt worden waren.
Wann ein Mensch als Flüchtling gilt, hängt maßgeblich von der juristischen Einordung des Aufnahmestaates ab. Wird vom Aufnahmestaat anerkannt, dass es sich um eine erzwungene Flucht handelt, beispielsweise durch Krieg oder Verfolgung, besitzt der Geflüchtete Anspruch auf Asyl. Wird dagegen festgestellt, dass ein mehr oder weniger freiwilliger Migrationsgrund vorliegt, besitzt der Staat das Recht auf Abweisung. Diese Unterscheidung ist höchst problematisch, da die Aufnahmestaaten politisch entscheiden, welcher Rechtsstatus an welche Person vergeben wird (Benhabib 2009; Krause 2016).
Wenn es darum geht, die moderne Gesellschaft gegenüber anderen abzugrenzen, ist die Frage des Umgangs mit Gewalt von zentraler Bedeutung. Denn der Moderne wird gemeinhin zugeschrieben, die Gewalt in den Griff bekommen zu haben: Die Würde und Freiheit des Einzelnen gelten ihr als universelle Prinzipien, die nicht nur philosophisch diskutiert, sondern auch in Verfassungen und Gesetzen kodifiziert worden sind und sich damit zu Grundprinzipien der Organisation von Gemeinwesen entwickelt haben. Daher gebe es in modernen Gesellschaften deutlich weniger Gewalt als in früheren und als in zeitgenössischen Gesellschaften, die (noch) nicht in der Moderne angekommen seien. Historische Untersuchungen scheinen dieses Argument zu belegen.01 Die Moderne hat – so scheint es – der Gewalt also in doppeltem Sinne den Rücken gekehrt: Sie ist gewaltavers in ihren ethischen Prinzipien und gewaltarm in ihren ihren alltäglichen Lebensrealitäten.
Die Gewalt ist nicht eingehegt. Sie ist überall, allgegenwärtig, sie zeigt sich in ihrer brutalsten, grausamsten Gestalt im Nordirak und in Syrien, in Afghanistan und Somalia, im Sudan und im Nahen Osten. Gewalt nimmt viele Formen an, sie zerstört Leben, ihre Erfahrung traumatisiert Menschen für immer, sie verletzt und verstümmelt. Gewalterfahrungen können menschliche Gemeinschaften und soziale Ordnungen zerstören, mit Gewalt werden lebensnotwendige Ressourcen vernichtet. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund, der uns doch tagtäglich vor Augen tritt, überhaupt davon sprechen, es läge ein Jahrhundert der Gewalt und ihrer Einhegung hinter uns?
Nur auf den ersten Blick erscheint es überraschend, dass die amerikanische Militärzeitschrift Parameters im letzten Heft des Jahres 2010 einen fast 40 Jahre alten Vortrag der Historikerin und Publizistin Barbara W. Tuchman wieder abdruckte. Beim zweiten Hinsehen hingegen fällt es leicht, den Vorgang als Symptom einer Dauerproblematik in den politisch-militärischen Beziehungen der Vereinigten Staaten zu dechiffrieren. Aber erst im dritten Anlauf wird deutlich, wie tief greifend die gegenwärtigen Herausforderungen an die institutionelle Organisation und Einhegung militärischer Gewalt tatsächlich sind – Herausforderungen, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen westlichen Demokratien beobachten lassen. Diese Beobachtung führt dann, viertens, zu Überlegungen, die Jan Philipp Reemtsma in seiner Studie über »Vertrauen und Gewalt« angestellt hat.
Fragt man, wer wir seien oder wie wir gesehen werden möchten, antworten wir häufig mit einer Berufs- oder Tätigkeitsangabe; „[...] wir definieren uns und andere durch Arbeit. Durch die Art und Menge unserer Arbeit“ . ‚Arbeit‘ ist daher ein „Schlüsselwort“ unserer Gesellschaft, so der Linguist Fritz Hermanns. Jedenfalls in der modernen Welt ist es so, und das gilt nicht nur für die fortgeschrittenen westlichen und asiatischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, sondern auch für die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer. Aber welche Wörter bilden in den gesprochenen und alten Sprachen der Welt überhaupt das Sinnfeld, das im heutigen Deutsch durch den Kollektivsingular ‚Arbeit‘, im Französischen durch travail, im Italienischen durch lavoro, im Englischen durch zwei konkurrierende Wörter – work und labour – beherrscht wird? Schon das englische Beispiel weist auf die Schwierigkeit hin, Äquivalenz des Gebrauchs und Synonymität der Bedeutungen zwischen den Sprachen – in ihren gegenwärtigen und historischen Stadien – für unser Schlüsselwort ‚Arbeit‘ ohne weiteres vorauszusetzen.
Im Januar 2012 feierte der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die Regierungspartei der Republik Südafrika, mit großem Pomp sein hundertjähriges Bestehen. Der ANC ist die älteste Organisation des afrikanischen Nationalismus nicht nur in Südafrika, sondern auf dem Kontinent – und war lange Zeit die erfolgloseste. Während politische Parteien in Westafrika wie Kwame Nkrumahs Convention Peoples Party (Ghana) bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung die Regierungsgeschäfte übernahmen und in anderen Beherrschungskolonien die Entkolonialisierung ähnlich schnell verlief, konnte der ANC erst 82 Jahre nach seiner Gründung die Regierung stellen.
Die Holocaust-Forschung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten internationalisiert, zugleich aber auch immer stärker ausdifferenziert und spezialisiert. Dabei entstanden regelrechte Sub-Disziplinen, etwa die »Täterforschung«, und viele Forschungsergebnisse sind – auch bedingt durch mangelnde Sprachkenntnisse – selbst für Spezialisten kaum noch zu überschauen. Mit diesem Band legen wir nun eine Einführung in die verschiedenen Forschungsansätze vor und diskutieren zugleich die Frage, in welche größeren historischen Zusammenhänge der Holocaust eingeordnet werden kann bzw. muss. Dabei geht es um Kernfragen künftiger Forschung ebenso wie um grundsätzliche Probleme, die durch die Internationalisierung und Ausdifferenzierung der Forschung entstanden sind.
Ist eine Geschichte ohne Dinge vorstellbar? Wohl kaum, denn auch der reine Gedanke benötigt Dinge, will er auf Dauer festgehalten werden. Ist eine Geschichtsschreibung ohne Dinge vorstellbar? Sehr wohl, wenn wir die in Bibliotheken und auf Festplatten angesammelte Geschichtsschreibung Revue passieren lassen. Dieses Dilemma der Diskrepanz zwischen der realen Welt, ihrer Wahrnehmung und der intellektuellen Reflexion betrifft zwar nicht allein die dingliche Dimension historischer Lebenswelten, doch stellt sich die Frage nach der Einbeziehung der materiellen Kultur in die historische Forschung aus mehreren Gründen besonders deutlich.
Die Deutschen tun sich schwer mit dem Kolonialismus. Lange Zeit an Universitäten wie im öffentlichen Bewusstsein ignoriert und vergessen, wird er seit einigen Jahren zwar erinnert, jedoch meist exotisiert und banalisiert. Hegels bekanntes Diktum, dass Afrika keine Geschichte habe, wird offenbar immer noch von vielen geglaubt, zumindest in der Form, dass, wenn es eine Geschichte hat, diese auf jeden Fall keinerlei Bedeutung für die eigene, sei es die europäische, sei es die deutsche, besitze.
Early twentieth-century managers identified the human factor in industry as one of the crucial problems of their time. This article reviews recent research on the development from unsystematic labour management to human resources management. Current studies transcend the well-known labour process debate, which focussed on management’s intent to control workers.Growing concern is laid on the fact that some early twentieth-century employers already practised strategies, which are characteristic of post-Fordism, e. g. that it would be more important to utilise individuals than control them with discipline. Studies on scientific management, social engineering, and the human relations approach are reviewed. Furthermore, I shall discuss the question which ones of these concepts were in fact adapted on work floor level. However, it has been proved that regimes of workforce government due to the power of foremen and supervisors were partly independent of higher management’s strategies.
Wo liegen heute die Perspektiven einer Geschichte der Industriearbeit? Über einige Jahre hinweg ging von diesem Themengebiet wenig Reiz aus: Gewiss gab es einige wichtige Detailstudien, aber große methodische Neuerungen blieben weitgehend aus. Letztlich kann dieser Befund nicht verblüffen, da gerade die 1970er und 1980er Jahre ein – damals in diesen Ausmaßen neues – Interesse an der Arbeiter- und Industriegeschichte hervorgebracht hatten, das gleichzeitig von methodischer Innovation mit Strahlkraft auf die gesamte Geschichtswissenschaft geprägt gewesen ist. In Deutschland konnte sich überhaupt erst im Zuge dieser Entwicklung die Sozialgeschichte etablieren.
This articles shows from a gender perspective how in twentieth century Germany the sciences of work dealt with the problems of the factory’s spatial order and the human factor. Starting in the 1920s, workers were no longer regarded as mere objects of discipline but rather as individuals whose individuality was to be utilized. As the women workforce grew, also the scientists’ of work interest in the gender question gained significance. Consequently, ergonomics argued for workplace engineering and a new form of leadership that took special care of “psychological and aesthetic” female needs. Therefore, the discourse on humanizing work, becoming hegemonic after 1945, had gender roots usually neglected by historical research.
Das NS-Regime begann mit dem Ausnahmezustand. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 durch den Reichspräsidenten entsprach formal noch der Verfassung, obwohl die Präsidialkabinette der Weimarer Republik seit 1930 längst die verfassungsgemäße Balance zwischen Reichstag, Regierung und Präsidenten zugunsten autoritärer Regierungen ohne parlamentarische Mehrheit verschoben hatten und daher das Präsidialkabinett Hitler ebenso wenig wie seine Vorgänger dem demokratischen Inhalt der Weimarer Verfassung entsprach. Auch war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen Anfang März bereits von der Behinderung und Verfolgung der Opposition durch die Nationalsozialisten mit allen Mitteln des Staates, die ihnen nun zur Verfügung standen, gekennzeichnet.
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Nationen – das 20. das des Volkes. Ohne Zweifel liegen beide Begriffe eng beieinander, oftmals scheinen ihre semantischen Felder sogar kongruent zu sein – und doch fallen sie nicht in eins. Mit der Gleichsetzung von Volk und Nation geraten die Differenzen aus dem Blick, die das 20. Jahrhundert in seiner spezifischen Gewalttätigkeit vom 19. unterscheidet.
Darf die Frage überhaupt noch gestellt werden? Oder vielmehr: Ist sie nicht längst, und zwar in aller Deutlichkeit beantwortet? Denn wer, wenn nicht die Nazis sollten Barbaren gewesen sein. Was dieses Urteil an Gewißheit verspricht, zerrinnt freilich schnell, sobald wir die Dinge näher betrachten und detaillierter nachfragen. Denn zweifellos waren die Nationalsozialisten keine barbarischen Usurpatoren, die aus fernen Ländern hereinbrachen, vielmehr stammten sie mitten aus der zivilisierten Gesellschaft Deutschlands. Wer also konnte zum Barbaren werden? Wie kann Zivilisation in nackte Barbarei umschlagen? Und wie umgekehrt aus Barbarei Zivilisierung entstehen? Die Entschiedenheit der Überzeugung, daß die Nazis Barbaren waren, scheint – so die Ausgangsvermutung dieses Aufsatzes – Vieldeutigkeiten zu verdecken, denen im folgenden nachgegangen werden soll. Insbesondere gilt es, die Rede von den barbarischen Nationalsozialisten mit den barbarischen Reden der Nationalsozialisten in Beziehung zu setzen. Dabei wird sich zeigen, daß auch sie sich des mächtigen Dualismus zwischen Zivilisation und Barbarei nicht entledigen konnten.
Die Geschichtswissenschaft stellt sich auf der einen Seite als eine von vielen Disziplinen in einer Universitas litterarum dar, auf der anderen erhebt sie den Anspruch, „alles“ als ihren Gegenstand zu betrachten. War es bis 1945 üblich, in „Geschichte“ immer nur bestimmte Facetten des vergangenen Lebens von Völkern, Staaten, Gesellschaften zu sehen – die Schwerpunkte konnten wechseln, das unterlag einer Art „Mode“ – und diese dann wie in einem „Kanon“ aufzulisten, so ist dieser „Kanon“ seitdem immer fragwürdiger geworden. Zwar gibt es noch die konventionellen Einteilungen, etwa in politische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle Geschichte, und die Strukturen traditionsreicher Universitäten werden oft durch althergebrachte Lehrstühle für verschiedene Teilgebiete der Geschichte bestimmt, aber das ist heute nicht mehr die Regel.
Nach zwei großen Konjunkturen von den 1920er bis in die 1940er Jahre und von den 1960er bis in die 1970er Jahre war in den 1980er Jahren ein Niedergang der vergleichenden Faschismusforschung zu verzeichnen. Hans-Gerd Jaschke sprach für diese Zeit sogar von einem »theorielosen Empirismus« und einem Abrutschen in »marginale Fragestellungen« der Faschismusforschung. Die alten Bekannten aus den 960er und 1970er Jahren, wie etwa George L. Mosse, Stanley Payne, Wolfgang Schieder und später auch Wolfgang Wippermann, publizierten zwar nach wie vor wichtige Aufsätze und anregende Monographien und Sammelbände, aber die vergleichende Faschismusforschung hatte an Ausstrahlkraft verloren. Nicht unwesentlich hatten die Probleme der tradierten Faschismusforschung der 1970er Jahre zum Erliegen der Faschismusrezeption und -forschung geführt.
Bis vor wenigen Jahren noch konnte der Jurist Raphael Lemkin als ein weitgehend in Vergessenheit geratener Immigrant polnisch-jüdischer Herkunft beschrieben werden. Als Lemkin 1959 in New York City verstarb, war er so mittellos und in Elend geraten, dass das American Jewish Committee sein Begräbnis und seine Bestattung bezahlen musste. Erst 2001 wurde Lemkin der Vergessenheit entrissen, als das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien sowie das Ruanda-Tribunal die ersten Urteile für das Verbrechen des Völkermordes fällten.
Die Vorstellung, das Konzentrationslager sei eine das Dritte Reich definierende Institution gewesen, ist zu einem Gemeinplatz über die 1930er Jahre geworden. Dies gilt ebenso für die Annahme, dass die deutschen Lager brutalere Instrumente waren, um Geist und Körper ihrer menschlichen Fracht zu brechen, als jede andere Form der Internierung. 1940 veröffentlichte der ungarische Autor und Journalist Arthur Koestler einen Bericht über seine Erfahrungen als Kommunist und Jude in Le Vernet, einem französischen Konzentrationslager für feindliche Ausländer. Zu seinem Glück wurde Koestler aus dem nahe der spanischen Grenze gelegenen Lager entlassen, bevor die Deutschen eintrafen.
Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch der Gesamtschau auf die veröffentlichte Forschungsliteratur über die nationalsozialistischen Konzentrationslager, wobei unter dem Begriff »Konzentrationslager« diejenigen Lager gefasst werden, die, wie Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald oder Auschwitz, der Inspektion der Konzentrationslager (seit 1942 Amtsgruppe D des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes) unterstanden. Thematisiert werden soll, welche Phasen und Zäsuren in der Historiografie der Lager auszumachen sind, welche Autoren oder Akteursgruppen publizierten und welche Themenschwerpunkte diese setzten. Die Übersicht gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst gehe ich kurz auf die Gesamtzahl der Publikationen ein, die in den vergangenen Jahrzehnten über die KZ verfasst worden sind, und typologisiere sie. Zweitens skizziere ich die Phasen der Historiografie der Lager und frage drittens nach den Themen, Fragestellungen und Desideraten der KZ-Forschung.
Zunächst ein Beispiel, an dem sich die Ausgangssituation industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings vergegenwärtigen lässt: Es geht um einen Besuch Willy Hellpachs im Daimler-Werk in Stuttgart/Untertürkheim. Hellpach besichtigte Daimler auf Einladung Eugen Rosenstock-Huessys, zu dieser Zeit Redakteur der »Daimler Werkzeitung«, um den sozialpsychologischen Folgen und Wirkungsgrenzen von Betriebsreformen im Allgemeinen und der Gruppenfabrikation im Besonderen auf die Spur zu kommen.
Die Medialisierung von Politik und Gesellschaft hat zweifellos mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität erfahren. Diese ist mit dem Rundfunk, der in Deutschland zum ersten Mal auf dem Höhepunkt der Inflation, im Oktober 1923, auf Sendung ging, entscheidend befördert worden. Das Radio fungierte für die folgenden dreißig bis vierzig Jahre als Leitmedium, das als Ikone des Modernen und der Moderne galt.
Wissenschaftlich scheint die Tragfähigkeit des Genozidbegriffes erschöpft, ironischerweise nicht zuletzt, weil seine Durchsetzung die Aufmerksamkeit auf das Phänomen massiver Gewalt gelenkt und sich unser Kenntnisstand enorm verbreitert hat. Eben weil wir jetzt so viel mehr wissen, legt er der Forschung Fesseln an. Mit seinen nur scheinbar klaren Vorgaben verstellt er den Blick auf die mitunter doch sehr anders gelagerten Realitäten entgrenzter Gewalt. Lässt man ihn für den wissenschaftlichen Diskurs fallen, könnte man sich endlich zu der Einsicht durchringen, dass Gewaltabläufe auch inkonsistent und kontingent, dass die Handlungen der Opfer, des Auslands eine Rolle spielen können für Entscheidungsprozesse der Täter, und dass nicht immer der Wille entscheidend ist, sondern die Tat.
Als Umbruchgeschichte verstandene Sprachgeschichtsschreibung ist weder theoretisch noch empirisch ein entwickelter Untersuchungsbereich, zumal fehlen Kategorien, die Sprachumbruch und Sprachwandel voneinander abgrenzen und zueinander in Beziehung setzen. Der Beitrag wirbt für ,Umbruch‘ als eine Perspektive der Sprach(gebrauchs)geschichte des 20. Jahrhunderts. Sprachliche Umbruchgeschichte, deren Erkenntnisziel auf die initialen Momente sprachlicher Veränderung gerichtet ist, steht in der Tradition der kulturwissenschaftlichen Linguistik. Sie stellt die Frage nach den sprachlichen Auswirkungen plötzlicher und umfassender gesellschaftlicher Veränderungen, vice versa: Sie bindet diese Veränderungen an sprachliche Verschiebungen. Damit ist sie eingelassen in handlungs- und kommunikationstheoretische Paradigmen der pragmatischen Sprachgeschichte. Im Zentrum des hier vorzustellenden Forschungskonzepts einer sprachlichen Umbruchgeschichte steht methodisch der diskursanalytische Ansatz, der nicht nur erklären kann, wie die gesellschaftliche Verfasstheit und sprachliche Verschiebungen zusammenhängen, sondern auch, wann sich solche Verschiebungen diskursiv manifestieren – diese Frage ist essentiell im umbruchgeschichtlichen Kontext. Dieser Ansatz wird im Sinn von analytischen Leitideen ausbuchstabiert. Den Schluss bildet die tentative Verdichtung der Überlegungen zu einem Modell eines sprachlichen Umbruchs.
Kyberkratie bezeichnet das Regieren vermittels kybernetischer Methoden, eine kybernetisch aufgeklärte Organisation der Gesellschaft. Der Begriff fasst die Bestrebungen sowjetischer Kybernetiker zusammen, die Anwendung kybernetischer Steuerungsmethoden von der Regelungstechnik nicht nur auf die Erforschung lebender Organismen, sondern auch auf die Wissenschaft von der Gesellschaft auszuweiten. Sie betrachteten die Gesellschaft als ein kybernetisches, durch Rückkopplungen gesteuertes System, dessen Funktionieren sie durch den Einsatz rationaler, expliziter und »objektiver« Methoden optimieren zu können meinten. Kurzum, ihr Anliegen war es, einen Sozialismus mit kybernetischem Antlitz zu schaffen. Kyberbürokratie bezeichnet einen bürokratischen Apparat, der über kybernetische Methoden und Technologien, einschließlich Computer, verfügt.
Bei einer Autopsie der Sowjetunion könnten Historiker auf dem Totenschein vermerken: »Verstorben an Ökozid«. Diese provokante These zweier renommierter westlicher Experten kann den Zerfall der Sowjetunion natürlich nicht hinreichend erklären. Aber aus umweltgeschichtlicher Sicht werden aufschlussreiche Aspekte sowjetischer Geschichte deutlich, die sonst allzu leicht durch das Raster historischer Forschung fallen. So lag die primäre Ursache für den Niedergangsprozess des ersten sozialistischen Staats auf Erden in seinem immer offensichtlicheren Mangel an wirtschaftlicher Leistungskraft, der nicht zuletzt auf den fortgesetzten Raubbau an Natur und Gesellschaft zurückzu-führen ist. Die Sowjetunion erwies sich als unfähig, sich den Bedingungen des postindustriellen Wandels im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts anzupassen. Der britische Historiker Eric Hobsbawm brachte es auf den Punkt, als er schrieb, die Sowjetunion hätte »mit wahrhaft titanischen Anstrengungen die beste Wirtschaft der Welt nach den Maßstäben der I890er-Jahre aufgebaut.« Mit ihrem »ziemlich archaischen, auf Eisen und Rauch beruhenden Industriesystem« geriet sie in den 1970er- und 1980er-Jahren immer tiefer in den Strudel ihres politischen und wirtschaftlichen Niedergangs.
Die akademische Geschichtswissenschaft steht mit der Präsentation ihrer Erkenntnisse in der Öffentlichkeit heute in einer bisher nicht dagewesenen Konkurrenzsituation. Fernsehsendungen und -serien bereiten vor allem die NS-Vergangenheit, aber auch wichtige Ereignisse der Nachkriegszeit in einer publikumsgerechten Weise auf. Filme erzählen Geschichten insbesondere aus dem „Dritten Reich“, aus Bombenkrieg und Nachkriegsära. Umfangreiche Dokumentationsreihen haben Konjunktur, gut recherchiert, auf die Erzählung von Zeitzeugen gestützt, mit illustrierender Hintergrundmusik dramatisierend aufgemacht, mit zeitgenössischen Photos und Filmstreifen Augen und Ohren ansprechend.
This essay critically engages with the current scholarly debate about ‘connecting lines’ and structural similarities between European colonialism and German National Socialism. Following the recent publication of books on the allegedly genocidal nature of German colonialism and the role of the Herero and Nama wars (1904–07) as a precursor of and model for the German war of extermination in Eastern Europe (1939–45), the essay will critically examine the allegedly ‘exceptional’ character of the German colonial wars within the broader trans-national context of colonial violence. It will be argued that the taboo violation of 1904 was in fact very much in line with common European colonial standards. Furthermore, the essay will critically engage with the question of direct continuities between ‘Windhoek and Auschwitz’, arguing that the German war of annihilation constituted a break with European traditions of colonialism rather than a continuation.
1988 publizierte Thomas Nipperdey Religion im Umbruch, einen Vorabdruck des Religionskapitels aus dem I. Band seiner Deutschen Geschichte 1866–1918. Das kleine Bändchen zur Religionsgeschichte des Kaiserreichs gilt seitdem als erster, folgenreicher Anstoß für ein neues Interesse deutscher Historiker an den komplexen Religionsgeschichten der Moderne. Unter dem Einfluß von Modernisierungsdogmatikern, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse als progressive Rationalisierung aller Lebensbereiche vorgestellt hatten und deshalb «die Moderne» durch Megatrends wie «Säkularisierung», «Dechristianisierung» oder «Entkirchlichung» bestimmt sahen, hatten die Vertreter der klassischen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte die Prägekraft religiöser Lebenswelten in modernen Gesellschaften weithin ignoriert und Glaubensorganisationen wie insbesondere die Kirchen bestenfalls als repressive Moralagenturen, «schwarze Polizei» oder herrschaftslegitimatorische Büttel eines autoritären Obrigkeitsstaates in den Blick genommen.
Das Erdklima hat auch früher Phasen der Erwärmung und Abkühlung erlebt, ich gehe jedoch davon aus, dass die gegenwärtige globale Erwärmung im Wesentlichen anthropogen, also von Menschen gemacht ist. Die Idee einer anthropogenen globalen Erwärmung ist nicht neu, es gibt sie schon mindestens seit der Zeit der Aufklärung. Heute wird diese Hypothese jedoch auf breiter Front von der Klimaforschung gestützt.