20. Jahrhundert
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Ohne afroamerikanische Geschichte kann die amerikanische Geschichte und Gegenwart nicht verstanden werden. Christine Knauer zeichnet in ihrem Beitrag die Genese der afroamerikanischen Geschichtsschreibung nach und verweist auf die enge Verknüpfung von Geschichtsschreibung, Freiheitskampf und Bürgerrechtsbewegung im 19. und besonders im 20. Jahrhundert. Sie beschreibt die derzeitigen Forschungsansätze und -trends in der afroamerikanischen Historiografie, die auch in der europäischen sowie deutschen Amerikaforschung zunehmend bearbeitet werden.
Als im Herbst 2017 der Berliner Antisemitika-Sammler Wolfgang Haney starb, wurden verschiedene Personen und Institutionen unruhig. Was wird aus der Sammlung? Kommt sie auf den Markt und geht als Gesamtwerk verloren? Welche Akteure und Logiken treten auf den Plan und konkurrieren um die ganze Sammlung oder um Einzelobjekte? Werden die Dauerleihgaben, die in großen Museen gezeigt werden, auf der Stelle zurückverlangt? Gibt es für öffentliche Einrichtungen Handlungsspielraum? Können, dürfen, sollen Steuergelder in den Ankauf judenfeindlicher Artefakte fließen? Wie werden sich die Erben verhalten?
Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
In der aktuellen Debatte um Holocaust, Kolonialismus und Erinnerung hat Per Leo jüngst angeregt, dass Historikerinnen und Historiker irritierende Fragen stellen sollten. Diesem, wie ich finde, klugen Vorschlag folgend, möchte ich hier diskutieren, ob und inwieweit die Rede von der Singularität des Holocaust angemessen, sinnvoll, erkenntnisfördernd ist. Wie ist sie (in der Bundesrepublik) entstanden, und worin könnte heute ihre Aussagekraft liegen? Müsste die Perspektive nicht erweitert werden? Solche Fragen führen in das Zentrum einer Debatte, die hierzulande seit der Auseinandersetzung vom Frühjahr 2020 um den afrikanischen postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe heftig entbrannt ist, dem der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein vorwarf, den Holocaust zu relativieren. Die vor allem in den Feuilletons geführte Debatte verschärfte sich, als der in den USA lehrende Historiker A. Dirk Moses im Mai 2021 mit einem provokanten Essay die deutsche Erinnerungskultur kritisierte: In der Fixierung auf den Holocaust würden die Kolonialverbrechen ausgeblendet. Die Kontroverse um Antisemitismus auf der diesjährigen documenta bildete mit den schrillen Tönen zweifellos den vorläufigen Tiefpunkt dieser Debatte. Nachdenkliche Argumente wie von Micha Brumlik, Sebastian Conrad, Charlotte Wiedemann oder Natan Sznaider scheinen kaum noch Gehör zu finden.
Was verrät der Umgang mit Behinderung über moderne Gesellschaften? Während in Arbeiten von Disability Historians zu lesen ist, dass die Linse »Behinderung« einen ganz neuen, kritischen Blick auf Kultur und Gesellschaft und ihren Umgang mit Diversität ermögliche, erweckt die Durchsicht der großen Synthesen etwa zur bundesrepublikanischen Zeitgeschichte den Eindruck, dass es offenbar auch ohne diese Kategorie geht. Weder kommen Menschen mit Behinderung dort vor, noch wird »Behinderung« als Strukturkategorie verstanden. Dies erstaunt umso mehr, als die Relevanz des Phänomens nicht bestritten werden kann: Etwa ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt mit einer körperlichen, seelischen oder kognitiven Behinderung. In der Bundesrepublik ist dieser Wert kaum niedriger. Der Anteil derjenigen, die wir heute als Menschen mit Behinderungen bezeichnen würden, dürfte in früheren Gesellschaften – legt man zum Beispiel die an Teilhabechancen orientierte Definition des deutschen Sozialgesetzbuches (SGB) IX zugrunde – mitunter noch größer gewesen sein. Die Geschichte dieser Menschen und des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen wurde von der historischen Forschung lange Zeit vernachlässigt. Die seit den 1980er-Jahren im Kontext der angelsächsischen Emanzipationsbewegung entstandene Disability History rückt beides ins Zentrum.
Access Activism. The Politicization of Wheelchairs and Wheelchair Users in the Twentieth Century
(2022)
For millions of disabled people around the world the wheelchair has been one of the most important technological innovations of the twentieth century. From its inception as a relatively cumbersome, heavy machine, designed principally for indoor use, the wheelchair has evolved into a sophisticated and highly technical mode of transport. Wheelchairs are, at least in the Global North, relatively widely used and universally recognizable – so recognizable that they have become the cultural symbol to represent all disabled people. Wheelchairs are often viewed with trepidation: as machines that disable, confine, and deprive their occupant of independence – as medical devices that doctors prescribe only to the sick, the wounded or the elderly. Such definitions and perceptions infiltrate the public lives of wheelchair users, cause considerable macro and micro political difficulties, and consequently disable users in a myriad of different ways.
Der Beitrag untersucht sowjetische Diskurse zur Welternährung und Hungerhilfe im »Zeitalter der Ideologien« während der 1950er- bis 1980er-Jahre. Trotz Versorgungsengpässen stellten die wechselnden sowjetischen Führungen den Export von Getreide und Hilfsgütern schon seit den 1920er-Jahren als moralische Pflicht des sozialistischen Systems und als Zeichen seiner Überlegenheit dar. Die Hilfspropaganda betonte die Notwendigkeit, die Kolonien bzw. die dekolonialisierten Staaten aus den Klauen der kapitalistischen Ausbeutung zu befreien. Ab Mitte der 1970er-Jahre hinterfragten sowjetische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts globaler Probleme bisherige ideologische Dogmen, wiesen auf die Vorteile der Handelsbeziehungen für die UdSSR hin und gingen von einer interdependenten globalen Ökonomie aus. Der Mangel an Zahlen führte bei der Bevölkerung indes zu Spekulationen über das Ausmaß der Hilfsleistungen. Sowjetische Publikationen, Karikaturen und andere Bilder geben Auskunft über den damaligen offiziellen Diskurs. Anekdoten aus sowjetischer Zeit, aber auch heutige Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen, wie die offiziellen Verlautbarungen und die visuelle Propaganda zur Getreideproduktion und zur Entwicklungshilfe in der Gesellschaft rezipiert und kritisiert wurden. Der Eindruck, die UdSSR habe zum Nachteil der eigenen Bevölkerung »Afrika gefüttert«, ist bis in die Gegenwart ein verbreitetes Stereotyp.
This article examines Soviet discourses on world food and famine relief in the ›age of ideologies‹ during the 1950s to 1980s. Despite supply shortages, the various Soviet governments presented the export of grain and aid since the 1920s as a moral duty of the socialist system and a sign of its superiority. Aid propaganda emphasised the need to free the colonies or decolonised states from the clutches of capitalist exploitation. From the mid-1970s onwards, Soviet scholars questioned previous ideological dogmas in the face of global problems, pointed to the advantages of trade relations for the USSR, and postulated an interdependent global economy. The lack of concrete figures, however, led to speculation among the population about the extent of the aid. Soviet publications, cartoons and other images provide information about the official discourse at the time. Anecdotes from the Soviet period and present-day conversations with contemporary witnesses provide evidence of how the official pronouncements and visual propaganda concerning grain production and development aid were perceived and criticised in society. The impression that the USSR ›fed Africa‹ to the detriment of its own population remains pervasive to this day.
Nichts, jenseits der Luft zum Atmen und dem Wasser zum Trinken, ist für die menschliche Existenz so grundlegend wie die Ernährung, kaum etwas so essentiell wie die regelmäßige Nahrungsaufnahme. Doch während Empfehlungen für Ernährungsumstellungen zum Veganismus oder zu vermeintlich »natürlichen« Paleo-Diäten in Teilen der westlichen Öffentlichkeiten auf fruchtbaren Boden fallen1 und der Wunsch nach Selbstoptimierung das Alltagsverhalten vieler Menschen beeinflusst, berichten Ärzt:innen und Gesundheitsexpert:innen in aller Welt über wachsende Probleme mit Fettleibigkeit und damit verbundenen Krankheiten. Nach Daten der OECD von 2017 hat Übergewicht in der Altersgruppe der 15- bis 74-Jährigen in allen Mitgliedsländern während der letzten drei Dekaden kontinuierlich zugenommen. Während in Frankreich und Italien im Jahr 2017 etwa 40 Prozent der Bevölkerung als übergewichtig galten, erreichten die Werte in den USA und Mexiko fast 70 Prozent. Im OECD-Durchschnitt gilt zudem eine von fünf Personen nicht nur als übergewichtig, sondern als fettleibig.
Tom Scott-Smith is Associate Professor of Refugee Studies and Forced Migration, Fellow of St. Cross College Oxford, and Course Director for the MSc in Refugee and Forced Migration Studies. Previously, he worked as a development practitioner concerned with the education sector in the Middle East and Sub-Saharan Africa. The following interview discusses arguments and questions arising from his newest book (2020), historical and currents trends of hunger relief, important players, institutions and gender relations in the humanitarian sector – and more. It was conducted by Heike Wieters (Historical European Studies, Humboldt-Universität zu Berlin) and Tatjana Tönsmeyer (Contemporary History, Bergische Universität Wuppertal) in a back-and-forth conversation via E-Mail.