20. Jahrhundert
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Unter denen, die vor der NS-Diktatur flüchteten, waren nicht wenige bildende Künstler/innen – so auch die deutsch-jüdische Bauhausfotografin Grete Stern (1904–1999), die 1935/36 nach Argentinien emigrierte. Trotz autoritärer politischer Tendenzen genoss sie dort deutlich mehr künstlerische Freiheit. Während der ersten beiden Amtszeiten des demokratisch gewählten Präsidenten Juan Domingo Perón (1946–1955), der sich vor allem in der staatlichen Kontrolle der Medien an den europäischen Faschismen orientierte, auf den sich wegen seiner Sozialpolitik jedoch auch linksgerichtete Bewegungen beriefen, veröffentlichte Stern in der Zeitschrift »Idilio« (»Idylle«) eine Serie von Fotomontagen. Nach einem Überblick zur peronistischen Kulturpolitik bildet die Einordnung dieser Montagen, die zusammen mit einer Traumdeutungs-Kolumne erschienen, den Schwerpunkt des Aufsatzes. In subtiler Weise kritisierte Stern soziokulturelle Missstände der Zeit. Zu einem ihrer Hauptthemen wurden die Geschlechterbeziehungen – ein Gebiet, auf dem sich das peronistische Regime nicht zuletzt in seiner umfangreichen Bildpropaganda rühmte, tiefgreifende Veränderungen hervorgebracht zu haben.
Wie für viele neue Staaten und »Entwicklungsländer« in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg spielten transnationale Dynamiken des Wissenstransfers auch für das 1948 gegründete Israel eine wichtige Rolle. Eine geradezu staatstragende Funktion kam dabei der entstehenden Raumplanung zu. Die israelischen Planungseliten waren durch ihr Studium und durch Grundannahmen des »Social Engineering« eng mit der deutschen Wissenskultur und speziell mit der Raumordnung verflochten – auch über die Zäsur von 1945 hinweg. Der Aufsatz untersucht die Rezeption der Theorie »zentraler Orte« im Kontext des ersten, meist als »Sharonplan« bezeichneten israelischen Nationalplans von 1951. Die 1933 durch Walter Christaller publizierte Theorie hatte auch einen konzeptionellen Eckpfeiler des »Generalplans Ost« gebildet, den die SS bzw. der »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« (RKF) nach 1939 zur »Germanisierung« der eroberten Ostgebiete entwickelt hatte. Die Ambivalenz der israelischen Rezeptionslinie wird anhand der Biographien dreier Planer geschildert (Eliezer Brutzkus, Artur Glikson, Ariel Kahane).
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)
Keine Epoche und kein Gegenstand der Zeitgeschichte ist vor transnationalen Fragestellungen sicher, gleich ob wir im Falle Deutschlands über die die alte Bundesrepublik, die DDR, Weimar, den Nationalsozialismus oder das Kaiserreich forschen. Auch für Europa stellt sich die Frage, ob dieses sich „transnational schreiben” lässt.
Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Kriege, des Terrors und der Vernichtung, in dem Millionen Menschen dem Wahn von wenigen zum Opfer fielen. Wir verbinden die Gräuel und Schrecken des Jahrhunderts gewöhnlich mit dem Eroberungskrieg und den Vernichtungsexzessen der Nationalsozialisten. In Osteuropa aber wird diese vergangene Wirklichkeit auch mit der stalinistischen Gewaltherrschaft in Verbindung gebracht. In Deutschland, besser: im Westen Europas, ist das Wissen darüber, dass es neben dem Nationalsozialismus noch eine andere mörderische Diktatur gegeben hat, nahezu in Vergessenheit geraten. Dieses Wissen gab es einmal, dann ist es aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht worden, weil die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft alle anderen Erinnerungen überdeckt oder zum Schweigen gebracht haben.
Version 1.0: Theorie ist ein genuines Element des Forschungssettings wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. Der Begriff wird heute in verschiedenen, sich teils widersprechenden Definitionen verwendet. Mit dem jeweiligen Theorieverständnis verbunden sind Grundentscheidungen über Form und Anwendungspraxis wissenschaftlicher Methoden.
This article explores the connection between genocide, language and language consciousness by tracing the strange biography of one Yiddish neologism: shabreven. During the Holocaust, the word came to mean both ›looting‹ and ›taking ownerless property‹. It stoked moral and etymological debate among Yiddish speakers in the Warsaw ghetto, while also occupying a prominent position in postwar Polish and Zionist discourses. The term shifted between different semantic, ethical and cultural fields, navigating a delicate balance between various meanings and norms. The discussions around this term help to shed light on key questions: What were the motivations for the study of Holocaust Yiddish neologisms? How did this early postwar Yiddish philological discourse differ from its parallel in German? Shabreven became both a symbol of the genocidal collapse of language and a tool for regaining victim agency in speech.
My Road to Berlin, or Mein Weg nach Berlin, presents a Willy Brandt that confounds a present-day reader’s expectations. While the 1960 autobiography of the then-mayor of West Berlin links his career with the familiar story of democracy’s development in Germany, this work nevertheless retains an unexpected edge. In one surprising scene, the mayor denounces his East Berlin SED counterparts as a ›Communist foreign legion‹ whom ›the citizens of my city had decisively defeated‹ during the Second Berlin Crisis of 1958 (p. 17). In the book, Brandt comes off as a Cold Warrior of steely determination rather than a Brückenbauer bridging ideological divides. Far from being out of character, however, My Road to Berlin captures Brandt at a pivotal moment in his career, when he sought to offer himself to both West German voters and a global public as a viable alternative to Konrad Adenauer.
How have Jewish intellectuals reflected on the German language both in relation to and in the aftermath of the ›catastrophe‹? This essay explores one perspective, that of H.G. Adler (Prague, 1910 – London, 1988), a scholar, author, and survivor of the Shoah. Adler’s relationship to and reflections on the German language offer insights into the experience of persecution and survival as well as into the memory and representation of the Holocaust. His vast body of work testifies to both the possibility and the necessity of writing ›after Auschwitz‹, and indeed to the necessity of writing in German after the Holocaust. A survivor of Theresienstadt, Auschwitz, and two satellite camps of Buchenwald (Niederorschel and Langenstein-Zwieberge), Adler went on to write in various forms, from the analytic to the poetic, about National Socialism, antisemitism, and life and death in the concentration and extermination camp system. His scholarly work made an important contribution to establishing the international and interdisciplinary field of Holocaust Studies, and his poetry and novels bear witness to his own personal experiences in the camps, albeit not in a directly autobiographical form.
The Language of Eichmann in Jerusalem. Nazi German and Other Forms of German in the 1961 Trial
(2024)
The Eichmann trial granted the German language a degree of audibility unprecedented in the short history of the State of Israel, with the defendant, the judges, prosecutors, and witnesses frequently resorting to speaking in German. Drawing on archival materials, protocols, footage, and press reports, this article shows how the Eichmann trial brought to the surface several historical tensions around the postwar status of the German language. The various forms of German heard in the courtroom challenged notions of German as a Nazi language and contributed to a gradual mitigation of its status as a tainted language. The article concludes by reassessing Hannah Arendt’s 1963 Eichmann in Jerusalem and specifically her postulate that Eichmann’s language faithfully reflected his mindset. It is argued that Arendt’s understanding of Eichmann’s language echoed prewar ideas on German’s distinctive power.
The Holocaust and Genocide
(2004)
How does the Holocaust relate to genocide as a concept and an event? This question has caused considerable controversy because scholarly discourse and identity politics cannot be separated neatly. While the term 'genocide' was coined during the Second World War and enshrined in International law in 1948, the Holocaust as a specifically Jewish tragedy did not become an object of consciousness until almost two decades later. Ever since, those highlighting a distinctive experience for European Jewry have sought to separate it from that of other victims of the Nazis as well as other cases of ethnic and racial extermination.
Die Holocaust-Forschung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten internationalisiert, zugleich aber auch immer stärker ausdifferenziert und spezialisiert. Dabei entstanden regelrechte Sub-Disziplinen, etwa die »Täterforschung«, und viele Forschungsergebnisse sind – auch bedingt durch mangelnde Sprachkenntnisse – selbst für Spezialisten kaum noch zu überschauen. Mit diesem Band legen wir nun eine Einführung in die verschiedenen Forschungsansätze vor und diskutieren zugleich die Frage, in welche größeren historischen Zusammenhänge der Holocaust eingeordnet werden kann bzw. muss. Dabei geht es um Kernfragen künftiger Forschung ebenso wie um grundsätzliche Probleme, die durch die Internationalisierung und Ausdifferenzierung der Forschung entstanden sind.
Informations- und Kommunikationstechnologien durchdringen gegenwärtig alle Lebensbereiche. Dabei haben sich mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters auch die Vorstellungen von Öffentlichkeit, Privatsphäre und Partizipation stark gewandelt. Techniken des „e-Governments“ steuern politische und soziale Prozesse. Computer regulieren den globalen Finanzmarktkapitalismus, berechnen (und manipulieren) Wahlergebnisse, lenken globale Kommunikationsströme, optimieren industrielle Produktions- und logistische Vertriebsprozesse und speichern überdies das Wissen von Verkehrsbetrieben, Krankenhäusern, Polizeibehörden und Geheimdiensten. Mit dieser Form der „Verdatung der Welt“ sind in den letzten Dekaden neue Wissensräume entstanden. Computer, Suchmaschinen und Datenbanken ordnen unsere moderne Welt.[1] Sie regeln den öffentlichen Raum und stecken zugleich die Sphäre des Privaten ab.
Technikgeschichte
(2018)
In den vergangenen Jahren hat sich die deutschsprachige Technikgeschichte inhaltlich und konzeptionell selbstbewusst präsentiert und ihre Position als eine eigenständige Disziplin des historischen Fächerkanons bekräftigt. Eike-Christian Heine und Christian Zumbrägel stellen zentrale Perspektiven, Begriffe und Theorien vor, die die Technikgeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts prägten, und benennen technikhistorische Themen, die aus zeitgeschichtlicher Perspektive besonders zukunftsträchtig erscheinen.
Die nationalsozialistische Machteroberung basierte zu einem nicht zu unterschätzenden Anteil auch auf einer erheblichen Selbstmobilisierung im ländlichen Raum. Sichtbare Zeichen jener „nationalen Revolution“ waren nicht selten „symbol- und raumpolitische Überschreibungen“ innerhalb der Dörfer und Kleinstädte. So rasch sich diese Überschreibungen ereigneten, so rasch wurden sie meist unmittelbar nach Kriegsende – ob im vorauseilenden Gehorsam oder aber auf Befehl der Besatzungsmächte – wieder aus dem Stadtraum getilgt. Umso wertvoller sind fotografische Dokumentationen jener Praxis der nationalsozialistischen Raumaneignung.
Subjekt und Subjektivierung
(2020)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Subjekt und Subjektivierung
(2019)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Subjekt und Subjektivierung
(2014)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart. Wiede beschreibt das relativ junge Forschungsfeld der Subjektivierung oder „Selbst-Bildungen” und plädiert dafür, die Zeitgeschichte verstärkt einzubinden.
How are people made into subjects, and how do they make themselves into subjects? - asks Wiebke Wiede and presents in the article the most important theoretical approaches to the functioning of "subjectification" in the 20th century. Subjects constitute themselves in historical space and are subject to institutional structures and subject definitions that are historically contingent. Accordingly, the cultural orientation needs of our present are also reflected in subject theories.
„Empört Euch!“ war Mitte Februar 2011 für die Dauer von wenigen Minuten in Lichtbuchstaben an verschiedenen Gebäuden Berlins zu lesen, vom Kurfürstendamm bis an den Potsdamer Platz. Die Aufforderung war mehr als ein Werbegag des Ullstein-Verlags für seinen gleichnamigen Bestseller, der wohl auch in Deutschland ohne diese Publikumsaktion per „fahrender Lichtinstallation“ ausgekommen wäre. Es handelt sich bei der kleinen Schrift aus der Feder des 93-jährigen Stéphane Hessel um einen Import aus Frankreich, dem Land, dem hierzulande eine große, wenn nicht die Empörungstradition zugeschrieben wird – kaum ein deutscher Feuilletonartikel oder Radiokommentar, der zum Verständnis des Erfolgs von Hessels Bändchen in Frankreich denn nicht auch auf diese Empörungsgeschichte verweist; gelegentlich wird sogar bis zur Fronde im 17. Jahrhundert zurückgegangen.
Stress ist ein ubiquitärer Begriff – seine geschichtswissenschaftliche Erforschung aber hat erst begonnen. Der Aufsatz skizziert programmatisch die Genese und die Funktionen des Stresskonzepts im 20. Jahrhundert. Dabei wird Stress nicht in erster Linie als Syndrom und Krisenphänomen betrachtet, sondern als Deutungs- und Handlungsangebot westlicher Gesellschaften, die sich als instabil, wandelbar, innovativ und dynamisch begreifen. Die performative Kraft des Stresses als Modus gesellschaftlicher Selbstreflexion wird in vier historisch und systematisch aufeinander bezogenen semantischen Feldern untersucht: Stress als Regulations- und Anpassungsmodell, Stress als Prinzip der Wettbewerbsgesellschaft (mit engen Beziehungen zu Arbeit, Leistung und Erfolg), Stress als Zivilisationskritik (mit der stressfreien Gesellschaft als utopischem Gegenbild) sowie Stress als flexible Ökologie von Mensch-Umwelt-Verhältnissen. Dabei handelt es sich weniger um eine chronologische Ordnung als vielmehr um Deutungsvarianten, die in unterschiedlichen Verwendungskontexten aufkamen und sich im heutigen Stressbegriff überlagern.
Eine schwarz-weiße Fotografie mit neun Personen, die zu einem Gruppenbild versammelt sind: Sieben Personen stehen, zwei sitzen. Alle tragen einen Lendenschurz, der den Blick auf die untergewichtigen, ausgezehrten, geschwächten Körper freigibt. Drei Personen stützen sich mit einem Stock ab, einige tragen Halsketten als Schmuck. Auch Ringe um die Knöchel sind zu sehen. Es ist unklar, ob es sich dabei vielleicht um Eisenketten handelt. Die Blicke sind meist auf den Betrachtenden gerichtet, nur die sitzenden Personen scheinen die Augen geschlossen zu haben. Im Hintergrund sieht man eine karge Landschaft; ein Zelt am rechten oberen Bildrand fällt ins Auge. Weitere Details sind bei näherem Hinsehen erkennbar, ohne den Betrachtenden genauen Aufschluss über die Personen, den Ort oder die Zeit der Aufnahme zu geben. Man ist auf Spekulationen angewiesen: „Afrikaner“, dem Aussehen nach? Der Landschaft zufolge möglicherweise ein Ort im südlichen Afrika. Material und Art der Aufnahme lassen auf einen lange zurückliegenden Entstehungszeitraum schließen.
In den über 60 Jahren, die seit den Ereignissen bei Stalingrad von 1942/43 vergangen sind, ist das Geschehen in den Erinnerungskulturen zahlreicher Länder immer wieder neu entworfen, umgewandelt und mit unterschiedlichen Deutungsebenen verknüpft worden. Die Muster der Erinnerung waren und sind eng verbunden mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zum Zeitpunkt ihrer Verbreitung, und sie standen bzw. stehen noch immer in einem gespannten Verhältnis zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über „Stalingrad“: So ging der Krieg für die Deutschen bereits im Winter 1941 verloren, und es folgten für Deutschland verlustreichere Kriegsphasen. Dass „Stalingrad“ in der deutschen und sowjetischen Erinnerungskultur bis heute eine herausragende Bedeutung einnimmt, steht dazu in offensichtlichem Widerspruch und kann nur gedächtnisgeschichtlich erklärt werden.
Stadtgeschichte
(2016)
Das 20. Jahrhundert lässt sich als „urban century” begreifen. Doch besteht bei aller Forschungsdynamik nicht wirklich ein Konsens darüber, was das Feld jenseits seines Gegenstandsbezugs eigentlich zusammenhält. Warum sind Städte gerade in jüngster Zeit zu immer prominenteren Gegenständen der Forschung geworden? Malte Zierenberg stellt Definitionsansätze vor, die zu klären versuchen, was die Stadtgeschichte eigentlich ausmacht, beschreibt interdisziplinäre Einflüsse, die für die moderne Stadtgeschichtsschreibung von Beginn an wichtig waren, und gibt einen Überblick zu aktuellen Forschungsthemen und Begriffen.
Sprachkritik und Autobiographie. Über Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen« (1947)
(2024)
Victor Klemperers Schrift »LTI. Notizbuch eines Philologen« wurde bereits in der Erstauflage zu 10.000 Exemplaren gedruckt, aber sie wurde nicht gleich zu dem Erfolg, den sich ihr Autor erhofft hatte. An Silvester 1947, nachdem ihm der Verlag das Geschenk eines eigens für ihn gebundenen Exemplars des ansonsten kartonierten Werks zugeschickt hatte, notierte er bedrückt in sein Tagebuch: »In diesem schönen Band […] tritt die Jämmerlichkeit des Papiers u. des Druckes noch krasser hervor. Im übrigen ist es ganz still von der LTI. Wo sind die 10.000 Exemplare? In keiner Buchhandlung, in keiner Redaktion. Keine Zeitung hat davon Notiz genommen.« Heute ist diese früh geäußerte Enttäuschung zu einer Fußnote geworden, denn das Buch gehört längst zu den Klassikern der Sprachkritik, liegt in sechsstelliger Auflagenhöhe und in vielen Übersetzungen vor. Das Nachdenken über die linguistische Korruption der modernen öffentlich-politischen Rede wurde durch wenige Werke so sehr angeregt wie durch dieses. LTI wurde dabei einerseits als »bedeutendes zeithistorisches Dokument« für die Ära des »Dritten Reiches« betrachtet, andererseits als »Wissensspeicher« für die Analyse der Funktionsweise einer Diktatur im Allgemeinen interpretiert. Beide Lesarten finden im Buch ihre Belege. Der ironische Latinismus »LTI« (für »Lingua Tertii Imperii«, »Sprache des Dritten Reiches«) war Kommentar und Deckkürzel zugleich; er persiflierte die nazistische Sucht nach Abkürzungen; und er war auch die »Geheimformel« (S. 20) in Klemperers Tagebuch der Jahre 1933–1945, mit der er seine Sprachbeobachtungen markierte. Ob nun mit dem Akzent auf die Zeugenschaft des Autors oder mit dem Blick auf die analytischen Angebote des Buches: Es ist in keiner dieser Perspektiven eine vergessene Schrift, sondern ein kanonisch gewordenes Werk, das im doppelten Wortsinne Geschichte geschrieben hat.
Als Umbruchgeschichte verstandene Sprachgeschichtsschreibung ist weder theoretisch noch empirisch ein entwickelter Untersuchungsbereich, zumal fehlen Kategorien, die Sprachumbruch und Sprachwandel voneinander abgrenzen und zueinander in Beziehung setzen. Der Beitrag wirbt für ,Umbruch‘ als eine Perspektive der Sprach(gebrauchs)geschichte des 20. Jahrhunderts. Sprachliche Umbruchgeschichte, deren Erkenntnisziel auf die initialen Momente sprachlicher Veränderung gerichtet ist, steht in der Tradition der kulturwissenschaftlichen Linguistik. Sie stellt die Frage nach den sprachlichen Auswirkungen plötzlicher und umfassender gesellschaftlicher Veränderungen, vice versa: Sie bindet diese Veränderungen an sprachliche Verschiebungen. Damit ist sie eingelassen in handlungs- und kommunikationstheoretische Paradigmen der pragmatischen Sprachgeschichte. Im Zentrum des hier vorzustellenden Forschungskonzepts einer sprachlichen Umbruchgeschichte steht methodisch der diskursanalytische Ansatz, der nicht nur erklären kann, wie die gesellschaftliche Verfasstheit und sprachliche Verschiebungen zusammenhängen, sondern auch, wann sich solche Verschiebungen diskursiv manifestieren – diese Frage ist essentiell im umbruchgeschichtlichen Kontext. Dieser Ansatz wird im Sinn von analytischen Leitideen ausbuchstabiert. Den Schluss bildet die tentative Verdichtung der Überlegungen zu einem Modell eines sprachlichen Umbruchs.
Mich erreichen in diesen Tagen dramatische Nachrichten aus der Ukraine. Als Historikerin, die seit vielen Jahren über die Geschichte des deutschen Vernichtungskriegs in der Ukraine forscht, bin ich erschüttert mitzuerleben, wie Putins menschenverachtender Krieg mit seiner ganzen Brutalität in den Alltag der Menschen in der Ukraine eingebrochen ist.
Jetzt ist die Rede von einer Zeitenwende. Wie schon 2014 bei der Annexion der Krim und der Entzündung eines Stellvertreterkriegs im Donbass. Trotzdem sind die damaligen Ereignisse in der europäischen Öffentlichkeit schnell wieder in Vergessenheit geraten, genauso wie der Krieg in Georgien 2008. Im Rückblick wächst die Einsicht, dass wir in Deutschland und Europa durch jahrelange Fehleinschätzungen und zögerliches Handeln eine Mitschuld daran tragen, dass Putin die „rote Linie“ immer weiter nach vorne geschoben hat.
Jetzt in einer aktualisierten und überarbeiteten Version 2.0: Lange Zeit galt die Sportgeschichte innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft als (schönste) „Nebensache” der Disziplin. Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat zeichnen in ihrem Beitrag nach, wie durch den Einfluss der Cultural Studies Fragen des Sports, der Bewegungskulturen sowie des Körpers und seiner Historizität an Bedeutung gewinnen. „Sportgeschichte”, so der programmatische Ausblick der Autoren, entwickle sich momentan zu einer Körper- und Kulturgeschichte, in deren Kern das Ineinandergreifen von Sport, Körperlichkeiten und Identitätsbildungen sowie deren soziokulturell ordnungsstiftende Mechanismen und Funktionen stehen. Eine solche Geschichte von Körpern in (sportlicher) Bewegung vermag daher auch zu zeigen, dass „Wahrheiten” über Körper letztlich Ergebnisse historischer Aushandlungsprozesse sind.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)
Lange Zeit galt die Sportgeschichte innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft als (schönste) „Nebensache" der Disziplin. Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat zeichnen in ihrem Beitrag nach, wie durch den Einfluss der Cultural Studies Fragen des Sports, der Bewegungskulturen sowie des Körpers und seiner Historizität an Bedeutung gewinnen. „Sportgeschichte", so der programmatische Ausblick der Autoren, entwickle sich momentan zu einer Körper- und Kulturgeschichte, in deren Kern das Ineinandergreifen von Sport, Körperlichkeiten und Identitätsbildungen sowie deren soziokulturell ordnungsstiftende Mechanismen und Funktionen stehen. Eine solche Geschichte von Körpern in (sportlicher) Bewegung vermag daher auch zu zeigen, dass „Wahrheiten" über Körper letztlich Ergebnisse historischer Aushandlungsprozesse sind.
Seit März 2011 können auf Docupedia-Zeitgeschichte unter der Rubrik "Länder" die ersten Beiträge abgerufen werden. Bei den veröffentlichten Texten handelt es sich um überarbeitete und durch Kommentare erweiterte Wiederveröffentlichungen aus dem von Alexander Nützenadel und Wolfgang Schieder herausgegebenen Sammelband „Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa“, der 2004 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen publiziert wurde. Auf Docupedia sind nun zunächst die Beiträge zur Zeithistorischen Forschung in den Niederlanden von Christoph Strupp, zu Österreich von Ernst Hanisch, zur Schweiz von Christof Dipper sowie zu Spanien von Walther L. Bernecker und Sören Brinkmann veröffentlicht worden. Überblicke zum Stand der Zeithistorischen Forschung in weiteren Ländern sind in Planung.
Die Existenz der Sowjetunion hat Ereignisabfolgen und Strukturen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das internationale System, kulturelle Verhältnisse und Mikromilieus auch außerhalb der UdSSR, politische und gesellschaftliche Diskurse, die Theoriebildung über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend mitgeprägt. Dies ist, wiewohl hinlänglich bekannt, deswegen noch einmal zu betonen, damit das Verständnis von Sowjetgeschichte nicht fälschlich auf die Geschichte der UdSSR in ihren Grenzen reduziert wird, d. h. auf eine Ländergeschichte unter vielen in der Abteilung Zeitgeschichte. Sowjetgeschichte weist europäische und globale Dimensionen zugleich auf.
Historische Ausstellungen und Museen haben in der Bundesrepublik seit mehr als drei Jahrzehnten Konjunktur. Seit den 1970er-Jahren häufen sich die Sonderausstellungen zu historischen Themen, und es gibt einen bisher ungebrochenen Museumsboom. Beobachten lässt sich nicht nur eine stetige quantitative Zunahme von und ein wachsendes öffentliches Interesse an historischen Ausstellungen; zugleich bildeten sich auch neue Ausstellungstypen und Präsentationsformen heraus. Schließlich wurden in den 1980er-Jahren die Forderungen nach der Errichtung eines zentralen historischen Museums immer lauter, bis dies zur Gründung von gleich zwei Geschichtsmuseen mit gesamtstaatlichem Anspruch führte (dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin). Der Trend scheint ungebrochen. Nach der Eröffnung der neuen Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) im Frühjahr 2006, mit der eine fast 20-jährige Planung zum vorläufigen Abschluss kam und mit der erstmals der Versuch einer historischen Überblicksdarstellung von der Römerzeit am Rhein bis zum wiedervereinigten Deutschland unternommen wurde, steht als ein weiteres historisches Großmuseum der Neu- bzw. Umbau eines Militärhistorischen Museums in Dresden an. Dieses wird nicht nur mit den expressiven Bauformen des amerikanischen Architekten Daniel Libeskind auf sich aufmerksam machen, sondern auch mit einem anspruchsvollen inhaltlichen und gestalterischen Konzept.
»Wir bummeln langsam die Donau hinab in Richtung Wien […].« Mit diesen Worten wandte sich am 29. Juli 1956 ein Reisender auf der Rückseite einer Ansichtskarte an seine Familie in Berlin. »Liebe kleine Mutti, liebe Omi, liebe Kinderchen!«, so redete er die Seinen an und unterzeichnete die Karte mit »Vati«. Der Absender war, zusammen mit seiner Frau, in Österreich unterwegs. Sein Postkartengruß ist auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, denn derartige stereotype Botschaften wurden viele verschickt. Bei genauerem Hinsehen aber ist diese Karte anders. Denn auf ihrer Bildseite ist nicht eine beliebige Donaulandschaft zu sehen, sondern die Stadt Mauthausen, die in der Nachkriegszeit zu einem Symbol für die nationalsozialistische Herrschaft in Österreich wurde. Die Geschichte der Gewalt, die sich in dieser Stadt zutrug, kommt auch auf der Rückseite der Karte zur Sprache.
Version 2.0: Beim Social engineering handelt es sich um einen transnationalen Versuch, gegen die vermeintlich zersetzenden Kräfte der Moderne mit künstlichen Mitteln eine natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem eine, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende, vernünftige soziale Ordnung entworfen wurde. Thomas Etzemüller zeigt in einer nun aktualisierten zweiten Version seines Beitrags, wie ein analytischer Zugriff auf den Begriff des social engineering hilft, spezifische Mechanismen, Wertungen und Taktiken im Umgang mit der Moderne zu verstehen und zu beschreiben.
Social Engineering
(2010)
Social engineering soll als transnationaler, Disziplinen übergreifender Versuch verstanden werden, gegen die vermeintlich zersetzenden Kräfte der industriellen Moderne mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem man eine alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende, vernünftige soziale Ordnung entwarf.
Skiurlaube
(2024)
Durch ihre Aufbewahrung und Erhaltung geben die Fotografien einen Einblick in besondere Momente der Familiengeschichte. Die Schwarz-Weiß-Bilder zeigen die Familie Lindenberger in verschiedenen Lebenslagen, von alltäglichen Szenen bis hin zu ihrer Freizeit. Bemerkenswert im Fotoalbum sind auch die Seiten, die die Bilder der Familie vom Skiurlaub präsentieren. In Deutschland wurde das Skifahren im späten 19. Jahrhundert populär, auch für den Mittelstand. Etwa 35.000-40.000 Deutsche standen auf Skiern. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern war die Zahl sehr hoch, wie eine Münchner Zeitung im Jahr 1912 berichtete. Fotos aus dem Skiurlaub waren daher gleichzeitig auch ein Statussymbol.
Darf die Frage überhaupt noch gestellt werden? Oder vielmehr: Ist sie nicht längst, und zwar in aller Deutlichkeit beantwortet? Denn wer, wenn nicht die Nazis sollten Barbaren gewesen sein. Was dieses Urteil an Gewißheit verspricht, zerrinnt freilich schnell, sobald wir die Dinge näher betrachten und detaillierter nachfragen. Denn zweifellos waren die Nationalsozialisten keine barbarischen Usurpatoren, die aus fernen Ländern hereinbrachen, vielmehr stammten sie mitten aus der zivilisierten Gesellschaft Deutschlands. Wer also konnte zum Barbaren werden? Wie kann Zivilisation in nackte Barbarei umschlagen? Und wie umgekehrt aus Barbarei Zivilisierung entstehen? Die Entschiedenheit der Überzeugung, daß die Nazis Barbaren waren, scheint – so die Ausgangsvermutung dieses Aufsatzes – Vieldeutigkeiten zu verdecken, denen im folgenden nachgegangen werden soll. Insbesondere gilt es, die Rede von den barbarischen Nationalsozialisten mit den barbarischen Reden der Nationalsozialisten in Beziehung zu setzen. Dabei wird sich zeigen, daß auch sie sich des mächtigen Dualismus zwischen Zivilisation und Barbarei nicht entledigen konnten.
Betrachtet man die Moderne als Projekt der Kontingenzbewältigung, so ist „Sicherheit“ eines ihrer wichtigsten Kernelemente, zielte das Projekt der Moderne doch unter anderem darauf, durch soziale Sicherungssysteme Lebensrisiken zu reduzieren. Wissenschaftliche und technische Fortschritte spielten dabei eine wesentliche Rolle, da entsprechende Hoffnungen von einem weit verbreiteten Optimismus getragen wurden. Je stärker sich jedoch die Erfahrung verdichtete, dass dieser Fortschritt vielfältige Gefahren erst schuf, umso mehr erschien die Moderne als eine Epoche, die im Dienst des Fortschritts auch neue Risiken wie Reaktorunfälle, Börsencrashs oder Arbeitslosigkeit generiert.
Der Beitrag befasst sich mit dem „Peckham-Experiment“, einem Forschungsprojekt, das in den 1930er- und 1940er-Jahren im „Pioneer Health Centre“ (PHC) durchgeführt wurde, einem Freizeit- und Gesundheitszentrum im Londoner Stadtteil Peckham. Im Fokus der Fallstudie steht die Genese neuen präventionsmedizinischen Wissens und neuer vorsorgebezogener Praktiken. Die beteiligten Experten versuchten, das „natürliche“ Potential von Individuen und die sozialen Beziehungen zwischen Familien zu nutzen, um ein gesundheitsförderliches Verhalten zu stimulieren. Das „Peckham-Experiment“ wird im Kontext der britischen wohlfahrtspolitischen Debatten und der biologisch-medizinischen Theorien seiner Gründungszeit analysiert. Gezeigt wird aber auch, dass der neue, stark auf Selbstverantwortung gerichtete Ansatz des PHC sich zudem aus den spezifischen Herausforderungen der „Laborsituation“ ergab, die im Laufe des Experiments zur Revision interventionistischer Vorannahmen führten. Allerdings waren andere Wissenschaftler skeptisch gegenüber den in Peckham gewonnenen Erkenntnissen. Zudem ließ sich das PHC nicht in den neuen „National Health Service“ integrieren. Beides bewirkte 1950 letztlich die Schließung des Centres.
This year marks the 500th anniversary of the Reformation, specifically of Martin Luther nailing his 95 theses to the door of the church in Wittenberg. There can be no doubt that the Reformation had a profound and long-term impact on European civilization. Will there be agreement 400 years from now that Lenin’s April Theses precipitated an event of world-historical significance?
Im Jahr 2020 soll nach aktuellem Zeitplan das Humboldt Forum eröffnen – sollten bis dahin alle technischen Probleme gelöst sein. Damit würde nach über sechs Jahren Bauzeit das rekonstruierte Berliner Schloss der Öffentlichkeit übergeben. Mit der (teilweise) wiederhergestellten Hohenzollernresidenz kehrte dann nicht nur eines der markantesten Bauwerke in die historische Stadtmitte zurück. Im 30. Jahr der deutschen Einheit erhielte Berlin endlich jenes lang ersehnte Symbol, das die „neue“ Bundesrepublik und ihre Hauptstadt für alle Welt sichtbar an preußische Traditionen rückbinden soll: die der Aufklärung, der Toleranz und des Humanismus. Mit diesem Brückenschlag zum „anderen“ – besseren – Preußen hätte die Suche nach einer vom 20. Jahrhundert möglichst unbelasteten, Identität stiftenden Meistererzählung im Zeitalter „post-murum“ ihr (vorläufiges) Ende gefunden.
Wie alle anderen Länder besaß auch die Schweiz ihre pragmatische Zeitgeschichte bis ins 19. Jahrhundert. Sie nahm von den 1790er-Jahren an tagespolitische Züge an und beteiligte sich an jenen Auseinandersetzungen, die 1847 in den Sonderbundskrieg mündeten. Unmittelbar danach setzte der Siegeszug des Historismus ein, der zugleich einen Professionalisierungsschub für die Historiker bedeutete. Quellenkritik wurde nun zum Kernbestandteil des historischen Handwerks erklärt und wer als Wissenschaftler gelten wollte, wandte sich von der Gegenwart ab; „das Dunkel der ersten Jahrhunderte des Bundes” wurde zur bevorzugten Epoche historischen Forschens.
Der Aufsatz entwirft eine Zeitgeschichte der Vorsorge, die sich für den hygienepolitischen Übergang von Praktiken der Intervention und Krisenbewältigung zu Praktiken der Prävention interessiert. Am Beispiel der Pestvorsorge in der Sowjetunion wird erstens ein Prozess der Institutionalisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung dargestellt. Zweitens werden die Eigenheiten des sowjetischen Falls herausgearbeitet. Die dortige Pestbekämpfung war bis in die 1930er-Jahre von Interventionen geprägt, die aus einem Repertoire repressiver, im Kontext der Zwangskollektivierung etablierter Maßnahmen schöpften. Der Umgang mit der Pest war nicht mit Aufklärung verknüpft, sondern mit Geheimhaltung. Die Einrichtung eines Netzwerks wissenschaftlicher Forschungsstätten führte zu einem Wandel im Umgang mit der Seuche. Dies war eingebettet in parallele Diskurse über administrative Grenzen und geographisches Wissen. Der Aufsatz stützt sich auf Quellen aus Staats- und Partei-Archiven in der Russischen Föderation und der Republik Aserbaidschan.
Schwitzende Werkarbeiter in der DDR, Menschen im Porträt, Bilder als kombinierte Triaden, die ihnen einen neuen Sinn geben – die aktuelle Werkschau des Berliner Fotografen Ludwig Rauch erzählt im Cottbusser Dieselkraftwerk Geschichte und Geschichten. Es geht um die DDR, um Menschen und ihre Biografien: sichtbar gemacht in Porträts und Serien. Das Altern, der Tod und vor allem das Leben sind Motive in Rauchs Werkschau, die er unter dem Titel Noch ein Leben zusammenfasst. Auf drei Etagen begegnen die Ausstellungsbesucher unterschiedlichsten Arbeiten, die auf teilweise überraschende Weise zusammengehören.
Verlagstext Böhlau, siehe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-21014-4.html: Ruth Fischer (1895–1961) war 1924/25 weltweit die erste Frau an der Spitze einer Massenpartei: der Kommunistischen Partei Deutschlands. Wie niemand sonst stand sie für die Angleichung der KPD an das autoritäre sowjetische Parteimodell. Später wurde sie – von Hitler und Stalin verfolgt – zur leidenschaftlichen Antikommunistin, die in den USA sogar gegen ihre Brüder Gerhart und Hanns Eisler sowie gegen Bertolt Brecht aussagte. Zuletzt suchte sie wieder Anschluss an eine undogmatische Linke.
Ruth Fischers bewegtes Leben wird in dieser Biographie auf der Grundlage bisher unerschlossener Archivquellen, darunter FBI-Akten, erstmals ausführlich dargestellt. Das Buch zeigt exemplarisch, wie Kommunismus und Antikommunismus sich im Kalten Krieg in einer Person verschränken konnten.
Der Vorsorgegedanke gehört, im Gesundheitswesen und darüber hinaus, zu den grundlegenden Kulturtechniken der Moderne. Die neuere Medizinsoziologie hat die Entwicklung der Gesundheitsprävention als Teil eines institutionellen Umbruchs von einem Gesundheitswesen alten Typs (Old Public Health) zu einem System neuen Typs (New Public Health) interpretiert. Demzufolge ging die Gesundheitspolitik alten Stils primär von staatlichen Einrichtungen aus und versuchte spezifische Krankheiten bei entsprechenden Risikogruppen zu bekämpfen. Dagegen betonen Ansätze des New Public Health das Leitbild einer umfassenden, auf die Gesamtbevölkerung zielenden Gesundheitsförderung, machen aber zugleich das Individuum verstärkt für die Vorsorge verantwortlich. Mit dem neuen Präventionsregime verbinden sich gleichwohl erhöhte normative Ansprüche und ausgeweitete staatliche Regulierungen. Sie manifestieren sich etwa in Tabaksteuern und Rauchverboten oder in Forderungen nach neuen Impfzwängen (Gebärmutterhalskrebs), obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen (Brustkrebs) oder fiskalischen Auflagen wie den in Dänemark oder Ungarn eingeführten Zucker- und Fettsteuern.
Die deutsche Filmgeschichte und Leni Riefenstahl (1902-2003), das war immer eine besondere Beziehung. Zum 100. Geburtstag der Regisseurin und dann in den Nachrufen konnte man die Spuren, Nachwirkungen und mitunter auch Fortschreibungen einer über Jahrzehnte geführten Auseinandersetzung feststellen, aber auch das seltsame Phänomen beobachten, dass die politischen Einwände gegen ihre Filme - von „Sieg des Glaubens“ bis „Tiefland“ - deutlich geringer geworden waren. Tatsächlich ist die Rezeption Riefenstahls in der deutschen Öffentlichkeit ein aufschlussreiches Phänomen, denn in ihr sind Konjunkturen und Wendungen zu beobachten, die ebenso viel über allgemeinere Entwicklungen im Verhältnis zur deutschen Geschichte verraten wie über den speziellen „Fall“ Riefenstahl. Dass sich eine Website die Aufgabe stellt, „mit einem Überblick über die Rezeptionsgeschichte von Leni Riefenstahl eine Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit einer der umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu geben“, ist daher eine vom Ansatz her verdienstvolle Entscheidung. Allerdings hat es mit dieser Website dann auch eine besondere Bewandtnis - sie ist ein Beleg dafür, dass das Internet nicht selten Relikte und Datenfriedhöfe enthält.
Der Titel des Buches „Bilder als Botschaft“ greift eine vielzitierte Formel auf, die Marshall McLuhan bereits vor mehr als 50 Jahren geprägt hat. Danach ist das Medium die eigentliche Botschaft und nicht unbedingt deren Inhalt. Angewandt auf die Illustrierten bedeutet dies, dass sie vor allem via Bilder Botschaften transportieren. Im Unterschied zur Praxis der Visual History, die bislang vor allem die Bildikonen im Blick hatte, geht es Dussel demgegenüber um das Durchschnittliche und Alltägliche des Massenmediums Bild.
Der Kunsthistoriker Peter Geimer zeichnet in seinem jüngsten Buch mit dem griffigen Titel „Die Farben der Vergangenheit“ die Entwicklungen und Veränderungen der „visuellen Repräsentation von Geschichte“ seit dem 19. Jahrhundert nach. Eröffnet wird die Darstellung mit kenntnisreich und flüssig geschriebenen Kapiteln zur Historienmalerei, die zeigen, wie sich die Malerei im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Idee, Wirklichkeit abzubilden, veränderte. Fortan galt es, detailliert und so genau wie möglich, Ereignisse wiederzugeben, die sich im besten Falle durch Zeitzeugen bzw. Augenzeugen oder originale Objekte belegen ließen. Anja Tack rezensiert im Visual-History-Beitrag das neu erschienene Werk.