20. Jahrhundert
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Woher eigentlich wissen Menschen, was sie fotografieren sollen, welche Bilder sie auswählen und wie Fotos in Alben eingeklebt und als individuelle Lebenserzählung gestaltet werden?
Die soziale Praxis des Sammelns von Bildern in Fotoalben folgt sowohl familiären als auch persönlichen Vorbildern und Vorlieben. Trotzdem weist ein großer Teil der mir bekannten Alben eine relativ hohe Ähnlichkeit in Struktur, Gestaltung und Inhalt auf. Es gibt also traditionelle Konventionen, die der Gestaltung eines Albums häufig zugrunde gelegt werden. Aber es gibt auch individuelle Eigenheiten innerhalb eines Albums, den Versuch, das Album zu einer geschlossenen Erzählung, häufig mit einem konkreten Anfang und einem Ende, zusammenzufügen. Diese „Handschrift“ des/der Albenautors*in bleibt auch über historische Zäsuren hinweg wie 1945 erstaunlich gleichförmig: nicht selten sitzen die gleichen Personen nur minimal verändert an der heimischen Kaffeetafel. Häufig sind die Motivationen und der Zeitpunkt ein Fotoalbum rückblickend zu erstellen der bilanzierende Abschluss einer Lebenszeit oder der Beginn einer neuen Phase, deren Bedeutung für das eigene Leben als hoch eingeschätzt wird, etwa die Militärzeit, die Hochzeit oder die eigene Familiengründung.
Im Geist der fotografischen Amateurbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen einige private Fotograf*innen über die Produktion privater Erinnerung und persönliche Bilanzierung der sinngebenden Lebensleistung hinaus und machen das Fotografieren selbst zu ihrem leidenschaftlich ausgeübten Hobby. Diese engagierten Fotoamateur*innen setzen sich gezielt von vermeintlich unambitionierten Knipser*innen ab. Ihre Fotos haben einen halböffentlichen Charakter und erreichen ein größeres Publikum als die Familie und engste Freund*innen. Die fotografierenden Amateur*innen bemühen sich um Austausch untereinander und um Anerkennung von ästhetischer Gestaltung und technischer Beherrschung der Kamera und des fotografischen Prozesses. Einige organisieren sich in fotografischen Vereinen und Zirkeln und lesen spezielle Zeitschriften, Fach- und Ratgeberliteratur und streben nach der Optimierung ihrer Bilder.
Unter dem Einfluss der politischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre entstand die historiographische Teildisziplin der Umweltgeschichte der Sowjetunion. Zunächst arbeitete sie sich an Begriffen wie „Ökozid“ und „Ökonationalismus“ ab. Jüngere Forschungen aus regional-, imperialund globalhistorischer Perspektive haben neue Themen erschlossen. Die Umweltgeschichte demonstriert, wie sehr der Mensch als soziales Wesen in seinem Handeln von der Spannung geprägt ist, seine Umwelt beherrschen zu wollen, sich aber aus seiner Einbindung in Naturkreisläufe
nicht befreien kann.
Eine Betrachtung von Berufungen unter der Kategorie Geschlecht eignet sich in besonderem Masse dazu, gleichsam wie in einem Vergrösserungsspiegel, die soziale Bedingtheit von Berufungen aufzuzeigen. Diese werden bis heute von den an Berufungsverfahren Beteiligten wenig oder gar nicht reflektiert, besteht doch die unhinterfragte illusio[1] des akademischen Feldes darin, nach dem vermeintlich harten Kriterium der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ›die besten Köpfe‹ zu berufen. Bislang gibt es für das 19. und 20. Jahrhundert, d.h. die Phase der sogenannten modernen Universität, keine historische, quellenbasierte Untersuchung zur inhaltlichen Ausgestaltung und zum Wandel von Berufungskriterien. Bisher ist auch das Verhältnis von Berufung und Geschlecht in historischer Längsschnittperspektive nicht systematisch untersucht worden.
Der folgende Beitrag erschien erstmals im Jahr 2012 in der Publikation „Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas“, die von Christian Hesse und Rainer Christoph Schwinges herausgegeben wurde. Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Sylvia Paletschek veröffentlicht zeitgeschichte|online die Einleitung des Aufsatzes. Eine vollständige Version findet sich auf dem freien Dokumentenserver FreiDoks plus, ein Angebot der Universitätsbibliothek der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und im Material zu diesem Beitrag.
Wir werden das Königliche Schloss – manche sagen Humboldt-Forum – wohl nicht mehr los. Nun steht es da, das Kreuz obendrauf und die selfie-süchtigen Menschenmassen zu Füßen. Die Historikerin Hedwig Richter schlägt vor, wir sollten uns damit arrangieren. In der deutschesten aller Kompetenzen, der „Empörungskompetenz“, haben wir verlernt, uns an der einfachen Schönheit des Baus zu erfreuen. Richter prognostiziert: Vielleicht wird das Ding ja zum „Volksbau schlechthin?“
Nein, weder Schloss noch Nachbau waren dem Volk – wie auch immer es definiert sein mag – gewidmet. Das Original war eine Herrscherresidenz, sein Replikat ist architektonischer Ausdruck einer Nationalromantik, die die Berliner Republik heimsucht.
In der vergleichenden Forschung zu politischer Gewalt in Deutschland spielen Unterscheidungen, die sich auf die weltanschauliche oder strategische Ausrichtung der Gewalt beziehen, eine zentrale Rolle. Gewalt gilt als ‚politisch‘, wenn sie auf die Herstellung oder Veränderung einer gesellschaftlichen Ordnung zielt, oder in diesem Sinne gedeutet wird. Und da es sehr verschiedene politische Visionen und Utopien gibt, erscheint es wichtig, diese begrifflich voneinander abzugrenzen. Der politische Horizont der Gewaltakteure wird dabei häufig zu einem Attribut der Gewalt selbst. So ist etwa von ‚linker Gewalt‘ und ‚rechter Gewalt‘ die Rede, die von ‚sezessionistischer Gewalt‘, ‚djihadistischer Gewalt‘ oder auch ‚ökoterroristischer Gewalt‘ unterschieden wird.
In der Regel dienen diese Formulierungen dazu, den Gegenstandsbereich einzugrenzen. Sie signalisieren, dass hier das (Gewalt-)Handeln jeweils bestimmter Bewegungen untersucht wird, die sich politisch spezifischen Ideologien oder Weltsichten zuordnen lassen. Gewalt gilt als ‚rechts‘, wenn sie von Rechtsextremist:innen verübt wird oder sich in den Horizont rechtsextremistischer Weltvorstellungen einordnen lässt, nicht weil unterstellt wird, die Dynamik der Gewalt selbst weise Merkmale auf, die sie eindeutig als dem rechtsextremen Spektrum zugehörig identifizieren. In der Regel verweisen die zitierten Attribute also auf den Horizont der Gewaltakteure; selten stehen dahinter starke gewalttheoretische Thesen über den spezifischen Charakter der Gewalt der genannten Gruppen.
How are people made into subjects, and how do they make themselves into subjects? - asks Wiebke Wiede and presents in the article the most important theoretical approaches to the functioning of "subjectification" in the 20th century. Subjects constitute themselves in historical space and are subject to institutional structures and subject definitions that are historically contingent. Accordingly, the cultural orientation needs of our present are also reflected in subject theories.
Subjekt und Subjektivierung
(2020)
Wie werden Menschen zu Subjekten gemacht, und wie machen sie sich selbst zu Subjekten? – fragt Wiebke Wiede und stellt in dem Artikel die wichtigsten Theorieansätze zur Funktionsweise von „Subjektivierung” im 20. Jahrhundert vor. Subjekte konstituieren sich im historischen Raum, und sie unterliegen institutionellen Strukturen und Subjektdefinitionen, die historisch kontingent sind. Demnach spiegeln sich auch in den Subjekttheorien die kulturellen Orientierungsbedürfnisse unserer Gegenwart.
Vortragende wie Moderator*innen der Tagung „Private Blicke in Diktatur und Demokratie: Schmalfilme und Fotos im 20. Jahrhundert“ haben der Redaktion von Visual History vorab ein Foto oder Filmstill aus der Forschungspraxis geschickt und dazu einige Sätze notiert: zum Bild selbst, zum Projekt, zum Vortrag auf der Tagung – so ist ein visuelles Mosaik zum Informieren, Stöbern und Entdecken entstanden.
Infrastrukturen
(2020)
Als „Infrastrukturen“ werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts Einrichtungen der Versorgung und Entsorgung, der Kommunikation und des Verkehrs bezeichnet, in einem erweiterten Sinne auch solche, die unsere Gesellschaft ökonomisch, sozial, kulturell oder medial miteinander vernetzen. Dirk van Laak rekapituliert die Konjunktur des Begriffs, geht auf die jüngere Geschichte ein und skizziert abschließend ausgewählte Felder, in denen Infrastrukturen momentan erforscht oder weiter analysiert werden könnten.
»So darf es nicht weitergehen«, forderten im September 2019 hunderte deutsche Ärzte und Verbände des Gesundheitssektors. Sie formulierten eine flammende Anklage gegen »das Diktat der Ökonomie« und gegen eine »Enthumanisierung der Medizin« in Krankenhäusern und Arztpraxen. Dieser »Ärzte-Appell« ist ein aktueller Beitrag zu einer langjährigen intensiven Debatte um das Verhältnis von Gesundheit und Ökonomie. In der Öffentlichkeit stehen die »Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens« meist als Menetekel für eine »Medizin ohne Empathie« und für die Verschärfung sozialer Ungleichheiten am Krankenbett: Kinder, aber auch Migranten, Alte und Arme seien die Leidtragenden, wenn es »an Geld, Ärzten und Pflegern« fehle. Die Binnenperspektive eröffnet nicht minder alarmierende Einblicke. In einer Studie wurden 2018 zahlreiche Geschäftsführer und Ärzte an Kliniken zu betriebswirtschaftlichen Einflüssen auf ihre Arbeit befragt. Sie zeichneten ein bedrückendes Bild, das die Autoren der Studie wie folgt zusammenfassten: »Die Krankenhausmedizin nimmt fabrikmäßige Züge an, die medizinische Arbeit wird für das ärztliche und pflegerische Personal tendenziell als fremdbestimmt erlebt. [...] Insofern verändert die Ökonomisierung auch mittelbar den Charakter der Medizin.«
Biografie ist ein literarisches und wissenschaftliches Genre, das erst durch theoretische und methodische Reflexionen zu einem konzeptionellen Ansatz der Geschichtswissenschaft wird. Levke Harders beginnt ihren Beitrag mit einer Übersicht zur Entwicklung der Biografik in den (deutsch- und englischsprachigen) Geschichtswissenschaften, thematisiert anschließend die Popularität (sowie die Grenzen) des Genres und stellt einige aktuelle Forschungsfelder der Biografik vor, die sich „neuen“ Subjekten und Themen widmen.
Zur Transformation von Häftlingen in Überlebende gehörte schon 1945 eine spezifische Visualität als KZ-Überlebende: Ihre Berichte gewannen mit den Fotografien und Zeichnungen an Glaubwürdigkeit und letztlich Bedeutung. Welche Motive und Sujets gehörten zu dieser Identitätssuche der Überlebenden? Meistens nutzten ehemalige Häftlinge die Bilder der alliierten Befreier, die eine spezifische Auffinde-Situation der Lager bei Kriegsende zeigten.
Materielle Kultur
(2020)
Der Mensch lebt, gesellschafts- und zeitgebunden, mit physisch präsenten Objekten innerhalb einer ihn umgebenden materiellen Kultur, die Handeln und Wahrnehmungen, Möglichkeiten und Zwänge, Erinnerung und Zukunftsoptionen beinhaltet. Im folgenden Beitrag werden zunächst grundlegende Definitionen problematisiert, um dann auf die Quellenbestände und die Methodologie der Dinganalyse einzugehen. Nach einem Überblick über die interdisziplinäre Forschung und der Herausarbeitung zentraler Forschungsfelder wird am Beispiel der DDR der Vorschlag gemacht, die Erforschung der materiellen Kultur innerhalb der Zeitgeschichte anhand von drei Problemhorizonten zu stärken.
Konsumgeschichte
(2020)
Zahlreiche Monografien, Aufsätze und Sammelbände sind in den letzten Jahren zu diversen Themen der Konsumgeschichte erschienen. Manuel Schramm gibt einen Überblick über zentrale Themen und diskutiert Fragen der Periodisierung in der Konsumgeschichte. Es folgt eine Erörterung des Verhältnisses von Konsum zu zentralen Themen der Sozialgeschichte, nämlich soziale Ungleichheit und Geschlechterverhältnisse. Anschließend wird auf die vielfältigen Verbindungen zwischen Konsum und Politik sowie auf die Globalisierung und Regionalisierung des Konsums eingegangen. Nach einem Blick auf neuere Ergebnisse der deutschsprachigen zeithistorischen Forschung werden Stand und Perspektiven der Konsumgeschichte erörtert.
Geschichtstourismus
(2020)
Der Beitrag skizziert ein Forschungsfeld der Public History, das bislang wenig systematische Betrachtung gefunden hat – Geschichte im globalen Tourismus. Ausgehend von Konzepten und Begriffen der Tourismustheorie, der Heritage Studies, der Ethnologie und der Geografie plädiert die Autorin dafür, die Spezifik des touristischen Geschichtskonsums entlang verschiedener Perspektiven zu untersuchen: als transkulturelle Zirkulation von Erinnerung, als performative Praxis im Raum sowie als Ausdruck der Ökonomisierung von Geschichte. Empirisch bieten sich neben Reiseführern, Blogs, Reviewportalen und Werbung auch Stadt- und Museumsführungen zur Analyse raumgebundener und interaktiver Geschichtserzählungen im Tourismus an.
Das fotografische Werk von Siegfried Wittenburg. Quellen zur Geschichte einer Transformationsperiode
(2020)
„Eine Billion für blühende Landschaften“ heißt auch die u.a. von der Bundesstiftung Aufarbeitung geförderte Ausstellung in der Kirche St. Georgen in Wismar im Corona-Sommer 2020 mit Wittenburg-Fotografien aus der Nachwendezeit der Jahre 1990 bis 1996. Um den genauen Quellenwert der Fotografien Siegfried Wittenburgs zu bestimmen, erscheint es zunächst notwendig, einen Blick auf den Fotografen zu richten, auf die politisch-kulturellen Bedingungen seiner fotografischen Praxis und auf seinen besonderen fotografischen Stil. Siegfried Wittenburg ist nicht irgendein Fotograf. Er gehört zu jenen Fotografen, die in ihren Aufnahmen schonungslos den Untergang der DDR, die friedliche Revolution und die merkwürdigen Jahre des Anschlusses an den Westen festgehalten haben. Seine Aufnahmen sind eine Art fotografisches Tagebuch dieser Zeit.
Der Begriff »Diversität« hat in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Verbreitung erfahren. Traditionell bezeichnete das Wort nur einen Zustand der Verschiedenheit; in der Gegenwart erscheint es in vielen Kontexten, um dessen Gegenteil zu erreichen: Das Wort meint Verschiedenheit und zielt auf Gleichheit. Schulen und Universitäten regeln Chancengleichheit im Namen von Diversität, Unternehmen formen eine heterogene Belegschaft mittels eines »Diversitätsmanagements«, und Migrationsbewegungen haben die alte Debatte um den Multikulturalismus wieder belebt. Durch seine vielseitige Anschlussfähigkeit ist Diversität zu einem populären und meist positiv besetzten Begriff geworden, der theoretisch jedoch weithin unterbestimmt blieb. Seine Paradoxie besteht in der Kollektivierung von Individuen zu homogenen Gruppen bei gleichzeitiger Pluralisierung dieser Gruppen zu nebeneinanderstehenden Einheiten – ausdrücklich ohne eine umfassende Universalisierung anzustreben.
»[…] wenn ›die Quelle‹ die Reliquie historischen Arbeitens ist – nicht nur Überbleibsel, sondern auch Objekt wissenschaftlicher Verehrung –, dann wäre analog ›das Archiv‹ die Kirche der Geschichtswissenschaft, in der die heiligen Handlungen des Suchens, Findens, Entdeckens und Erforschens vollzogen werden.« Achim Landwehr wirft in seinem geschichtstheoretischen Essay den Historikern ihren »Quellenglauben« vor – diese Kritik ließe sich im digitalen Zeitalter leicht auf die Heilsversprechen der Apostel der »Big Data Revolution« übertragen. Zwar regen sich mittlerweile vermehrt Stimmen, die den »Wahnwitz« der digitalen Utopie in Frage stellen, doch wird der öffentliche Diskurs weiterhin von jener Revolutionsrhetorik dominiert, die standardmäßig als Begleitmusik neuer Technologien ertönt. Statt in der intellektuell wenig fruchtbaren Dichotomie von Gegnern und Befürwortern, »First Movers« und Ignoranten zu verharren, welche die Landschaft der »Digital Humanities« ein wenig überspitzt auch heute noch kennzeichnet, ist das Ziel dieses Beitrages eine praxeologische Reflexion, die den Einfluss von digitalen Infrastrukturen, digitalen Werkzeugen und digitalen »Quellen« auf die Praxis historischen Arbeitens zeigen möchte. Ausgehend von der These, dass ebenjene digitalen Infrastrukturen, Werkzeuge und »Quellen« heute einen zentralen Einfluss darauf haben, wie wir Geschichte denken, erforschen und erzählen, plädiert der Beitrag für ein »Update« der klassischen Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft. Die kritische Reflexion über die konstitutive Rolle des Digitalen in der Konstruktion und Vermittlung historischen Wissens ist nicht nur eine Frage epistemologischer Dringlichkeit, sondern zentraler Bestandteil der Selbstverständigung eines Faches, dessen Anspruch als Wissenschaft sich auf die Methoden der Quellenkritik gründet.
Für dieses Buch muss man sich etwas Zeit nehmen. Ich hatte die gut 700 Seiten umfassende amerikanische Originalausgabe von »Mechanization Takes Command« (den Titel kürzte Giedion in seinen Notizen mit dem Akronym »M.T.C.« ab) im Sommer 2017 im Amtrak California Zephyr auf meiner Reise von Greenriver, UT, nach Chicago, IL, im Gepäck. Diese Reise bot aktualisiertes Anschauungsmaterial zu Giedions Sondierungen der US-amerikanischen Industrialisierungsgeschichte. Sie folgte jener Eisenbahnlinie, welche Kalifornien (wo die Frontier-Gesellschaft Amerikas im ausgehenden 19. Jahrhundert an ihr Ende gelangte) mit Chicago verbindet (der nach dem großen Brand von 1871 zur Industriemetropole avancierten Stadt am Lake Michigan). Dazwischen öffnete sich der Midwest, dessen verrostete und verlassene industrielle Infrastruktur (Bahnhöfe, Fabriken, Brücken, Städte) durch das Zugfenster ins Blickfeld geriet und somit den Endpunkt der von Giedion dokumentierten Entwicklungen brutal vor Augen führte. Die heruntergewirtschafteten Landschaften des Midwest und Giedions Streifzüge in ihre Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts flossen ineinander über. Etwa dann, wenn der Zug stillstand und mein Blick bei den Getreide-Elevatoren hängen blieb, wo sich die Eisenbahnlinien kreuzen und der Personenzug den unendlich langen Güterwagen, die von Diesellokomotiven angetrieben werden, den Vortritt lassen musste. Oder wenn ich beim mäandrierenden Durchblättern des Buches und dem Blick aus dem Zugfenster den Faden verlor und eindöste – und dann beim Eindunkeln jäh von den sleeping car attendants, welche die ausklappbaren Sitze für die Nacht mit ein paar Handgriffen zu Betten umwandelten, in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Oder im Nachfolgemodell des von George M. Pullman 1869 in seinem Patent beschriebenen Speisewagens, wo die Reisende aus Europa und Wählerinnen des amtierenden Präsidenten sich am gemeinsamen Tisch zum Verzehr von Burger, Steaks und Hot Dogs wiederfanden. Jenes Präsidenten, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Re-Industrialisierung abgehängter Regionen im einst prosperierenden Rostgürtel der USA versprach.
Living History
(2020)
Der Artikel zeichnet den Sammelbegriff Living History in seinen verschiedenen Definitionen, Formen und Ausprägungen nach, um einen Überblick zum breiten Phänomenbestand zu geben. Dabei werden sowohl Entwicklungen in den USA als auch in Europa berücksichtigt sowie historische Vorläufer gegenwärtiger Phänomene thematisiert. Während im angloamerikanischen Raum Living History als Bildungsangebot und Programmbestandteil vollständig in die Museumslandschaft integriert ist, gibt es in Deutschland noch immer Vorbehalte gegen diese Art der Darstellung. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich die Geschichts- und Kulturwissenschaften zur Living History verhalten können: Welche theoretischen Zugänge und Ansätze gibt es zur Untersuchung und Analyse von Living History?
Das historische Ereignis
(2020)
Historische Ereignisse gelten als zentrale Elemente bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nachdem ihre Bedeutung mit dem Aufstieg der Sozialgeschichte in den Hintergrund rückte, hat in jüngster Zeit – auch durch kultur-, medien- und sozialwissenschaftliche Impulse – die Auseinandersetzung mit Ereignissen wieder zugenommen. In dem Artikel wird diskutiert, wie sich das historische Ereignis konzeptionell fassen lässt, wie sich sein Status in der Geschichtswissenschaft wandelte und welche (zeit-)historischen Ansätze sich zur Erforschung anbieten.
Obwohl Psychologie und Psychoanalyse Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft sind, findet eine methodische und theoretische Auseinandersetzung mit diesen kaum statt. Dennoch können sie, wie Nikolas R. Dörr im vorliegenden Beitrag erörtert, hervorragende Hilfswissenschaften der (zeit-)historischen Forschung sein, wenn sie richtig ausgewählt und angewendet werden. Er plädiert für eine (Wieder-)Entdeckung beider Disziplinen und erörtert den Nutzen mithilfe eines kurzen geschichtlichen Abrisses sowie von praxisbezogenen Anwendungsbeispielen.
Geographisch und kulturell scheint der Nahe Osten von Deutschland weit entfernt zu sein. Historisch betrachtet ist dies ein Trugschluss, denn die dort virulenten Konflikte sind eng verflochten mit der europäischen Kolonialgeschichte, der Geschichte des Nationalsozialismus und der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Alltag sind sowohl der Nahostkonflikt als auch Frieden im Kleinen heute in vielfältiger Weise präsent: Während sich in Deutschland antisemitische und antizionistische, aber auch antimuslimische Angriffe häufen, serviert das von einem jüdischen und einem arabischen Israeli gemeinsam betriebene Berliner Restaurant Kanaan im Prenzlauer Berg »Hummus zur Völkerverständigung«. Das von Daniel Barenboim und Edward Said 1999 in Weimar gegründete West-Eastern Divan Orchestra, paritätisch mit israelischen und arabischen Musiker*innen besetzt, existiert nunmehr seit 20 Jahren und hat einen seiner Arbeitsschwerpunkte in Berlin. Unter den Menschen wiederum, die seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien nach Deutschland kamen, sind nicht wenige Nachfahren von Palästinenser*innen, die im Kontext der israelischen Staatsgründung aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet flüchteten oder vertrieben wurden.
Natürlich gibt es Bilder der Shoa, die voll des Grauens sind und auf den ersten Blick Einhalt gebieten. Die Gewalt, die in ihnen ist – die Gewalt, die die Bilder zeigen und/oder die das Machen der Bilder ausdrückt – springt sofort ins Auge. Der Fotograf oder (viel seltener) die Fotografin war Teil der Tat oder stand den Tätern nahe. Die Kamera war zur Waffe geworden, die die Betroffenen zusätzlich entwürdigte. Oft ist die abgebildete Gewalt solcherart, dass die Betroffenen sie nicht überlebt haben können. Sie können also ihre Zustimmung zum Zeigen der Fotos nicht mehr gegeben haben. Doch wurden auch jene, die überlebt haben, in der Regel nicht gefragt, was sie von einer Veröffentlichung der Fotos halten.
In einer Notiz von Joseph Goebbels findet sich der Hinweis auf eine Sentenz des Reichspresseleiters Max Amann, dass die Zeitschrift „Signal“ „wertvolle Blockadebrecherarbeit gegen den frühen beherrschenden antideutschen Zeitschrifteneinfluß in Europa geleistet“ habe – und das bereits im April 1940. Der Einfluss dieser Zeitschrift auf die offizielle Kriegspropaganda vieler Staaten kann kaum überschätzt werden. Denn im Vergleich selbst zu großen Magazinen wie „Life“, „Picture Post“ oder auch „USSR im Bau“ war „Signal“ einfach ein grafisch wie vom Bildmaterial her gut gemachtes Blatt, gerade in jenem vorsprachlichen Jargon der Designer, die zu jener Zeit für das Machen von Zeitschriften verantwortlich waren. Noch in den 1980er Jahren bekannte der Bildjournalist Robert Lebeck, in „Signal“ mehr gute Bilder gesehen zu haben als in „Life“ oder „Paris Match“ zur selben Zeit.
Der Zweite Weltkrieg ist bis heute in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur präsent und wird auf individueller wie kollektiver, medialer Ebene mit ganz bestimmten Bildern assoziiert. Auf deutscher Seite waren vor allem die Propagandakompanien (PK) der Wehrmacht die wichtigsten Bildlieferanten zeitgenössischer Medien. Ihre Fotografien durchliefen eine doppelte Zensur: eine militärische sowie die durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Die PK-Fotografen waren aber zumeist aufgrund ihrer Ausbildung, oft auch ihrer ideologischen Prägung nach, in ihrer fotografischen Praxis darauf ausgerichtet, vom Regime gewünschte Bildvorstellungen umzusetzen.
Verfassungsgeschichte
(2020)
In seinem Beitrag befasst sich Christoph Gusy mit der Disziplin „Verfassungsgeschichte“, die als Teildisziplin der Rechtsgeschichte von der Geschichts- und Rechtswissenschaft betrieben wird. Die Geschichte der Verfassungen behandelt zentrale Normen der Legitimation, Organisation und Ausübung hoheitlicher Gewalt, die so erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gelten. Für die Verfassungsgeschichte gilt dementsprechend: Sie versteht sich ganz überwiegend als „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“. Dies ermöglicht und erschwert zugleich die Herausbildung einer Zeitgeschichte der Verfassungen.
Digitale Spiele
(2020)
Digitale Spiele sind integraler Teil der „Digitalen Revolution“. Sie dienen nicht nur als Trägermedium von Geschichtsbildern, sondern können als wirtschaftliche und kulturelle Artefakte konkreter menschlicher Gesellschaften begriffen werden. Im Zuge ihrer Verbreitung zum Massenphänomen beeinflussten sie Ästhetik und Narrative anderer Medien – und sind zu einem internationalen Milliardengeschäft geworden. Der Artikel von Eugen Pfister und Tobias Winnerling gibt einen Überblick der unterschiedlichen Begrifflichkeiten und eine Chronologie der Spieleentwicklung, um dann Digitale Spiele aus Sicht der Geschichtswissenschaften zu beleuchten.