20. Jahrhundert
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Die zu keinem Zeitpunkt besonders exklusive Position der akademischen Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit wird heute mehr denn je herausgefordert von außerakademischen Beiträgen zur Geschichtsschreibung. Das gestiegene wie auch pluralisierte Bedürfnis nach geschichtlicher Einordnung der Gegenwart findet in den populären Geschichtsformaten ganz offensichtlich eine breite Resonanz. Bei dieser Ausweitung spielen fundamentale politische, sozialgeschichtliche und kulturelle Entwicklungen eine Rolle, namentlich die Aufweichung der nationalgeschichtlichen und nationalkulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die moderne Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung seit dem frühen 19. Jahrhundert entstanden waren. Im frühen 21. Jahrhundert verstehen sich vormals undiskutierte Bezugsrahmen einer solchen Geschichtsschreibung nicht mehr von selbst. Vielmehr muss zunehmend klargestellt werden, wer welche Art der Geschichte für welches Publikum darstellen will.
Kürzlich hat Hans Günter Hockerts darauf verwiesen, dass in der sich diversifizierenden „jüngeren“ Zeitgeschichte Fragen nach Migration neben Geschlecht, Generation oder Konsum einen Aufschwung nehmen - womit die zeithistorische Forschung allgemeinen historiographischen Trends folgt. Dies ist ganz wesentlich Klaus J. Bade zu verdanken, der seit den späten 1970er-Jahren auf die Bedeutung der Migration von Polen und polnisch-russischen Juden nach Preußen und später in das Deutsche Reich für die Konstituierung der deutschen Nation hingewiesen und daraus allgemeinere Überlegungen zur Migration als Thema der Sozialgeschichte entwickelt hat. Auch durch das von ihm geleitete Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) wurde der Stellenwert der historischen Migrationsforschung in der deutschen Geschichtswissenschaft erhöht. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass Migration in der deutschen Zeitgeschichte eher als Spezialfeld bzw. als randständiges Phänomen der Sozial(staats)geschichte angesehen wird.
Die Internationale Geschichte verzeichnet gegenwärtig einen Boom – auch und besonders in der Zeitgeschichte. Hatte sich die zeithistorische Forschung in der Bundesrepublik seit ihren Anfängen, Hans Rothfels folgend, zwar „im internationalen Rahmen“ positioniert, so galt das vorrangige Interesse doch den großen Problemen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Entsprechend standen die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik sowie der Nationalsozialismus und seine Folgen lange Zeit im Fokus. Später traten die Fragen der Zweistaatlichkeit sowie, nach 1989/90, umfassende Forschungen zur DDR-Geschichte und zu den beiden deutschen Staaten im Europa des Kalten Kriegs hinzu. Auch die Geschichte Europas hat in der zeithistorischen Forschung seit langem viel Aufmerksamkeit gefunden; verglichen mit Osteuropa genoss „der Westen“ hier allerdings oft einen Vorrang.
Noch immer wird Zeithistorikern gelegentlich nachgesagt, sie hätten ein gestörtes Verhältnis zu den modernen audiovisuellen Medien, und in der Tat hat die Disziplin erst mit einiger Verzögerung auf deren Ausbreitung reagiert. Dies galt lange für die Massenmedien ganz allgemein, deren Quellenwert aus der Perspektive einer klassischen, staatszentrierten Politikgeschichte äußerst begrenzt erschien. Aber auch die Wendung hin zur Gesellschaft, zur Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte hat zunächst überraschenderweise kaum dazu geführt, dass die Präsenz von Medien im Alltag in diesen Ansätzen besondere Berücksichtigung gefunden hätte. Zwar ist diese traditionelle Zurückhaltung – von einigen Residuen abgesehen – inzwischen erodiert: „Mediengeschichte“ hat sich als Subdisziplin innerhalb der Zeitgeschichte etabliert. Aber jenseits eines Verständnisses als Spartengeschichte verbreitet sich erst sehr langsam die Erkenntnis, dass die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts generell nicht mehr angemessen geschrieben werden kann, ohne die ubiquitäre Verbreitung und Rezeption der Massenmedien zu berücksichtigen. Das gilt keineswegs nur für die sozial- und erfahrungsgeschichtliche Dimension des Mediengebrauchs. Wenn sich, um nur ein Beispiel zu nennen, die Darstellungsseite von Politik bereits seit geraumer Zeit maßgeblich in populären Medien wie dem Fernsehen vollzieht und Repräsentationen und Wahrnehmungen mit dem politischen Prozess rückgekoppelt sind, dann muss auch die Politikgeschichtsschreibung diesem Umstand Rechnung tragen.
Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
Wie verändern sich die Objekte der Geschichtsschreibung, also die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit, durch die Medien? Wie verändert sich die Geschichtsschreibung selbst durch die Medien? Was bedeutet die in Forschung und Öffentlichkeit verbreitete Rede von der ‚Mediengesellschaft‘ aus historischer Perspektive eigentlich genau? Der Aufsatz unterscheidet zunächst einige Prozesse der ‚Medialisierung‘, geht damit verbundenen Strukturverschiebungen nach und betrachtet insbesondere Veränderungen von Öffentlichkeiten. Dabei wird dafür plädiert, die Ambivalenz der Entwicklungen anzuerkennen und nicht vorschnell Paradigmenwechsel zu behaupten. Zudem werden einige Leitlinien formuliert, was eine Medialisierung der Zeitgeschichtsschreibung bedeuten könnte. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten und neue Ziele zu setzen, die der Ära der Audiovisualität gerecht werden.
Mit Christian Geulens „Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“ möchten wir eine Diskussion eröffnen zu den möglichen Konturen einer Historischen Semantik des vergangenen Jahrhunderts sowie zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Begriffsgeschichte. Als Beitrag zur Historisierung und epochalen Charakterisierung der „Hochmoderne“ skizziert Geulen das Programm einer begriffsgeschichtlichen Grundlagenforschung, die zugleich als Vorstoß zur wissenschaftsgeschichtlichen Erschließung der eigenen Disziplin zu verstehen ist. Nach dem editorischen Abschluss der lexikalischen Großforschungsprojekte der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (1972–1992), des „Handbuchs politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820“ (1985–2000), des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ (1971–2007) und der „Ästhetischen Grundbegriffe“ (2000–2005) beginnt soeben erst eine Rückschau auf die begriffsgeschichtliche Fundierung der deutschsprachigen Geisteswissenschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
Zeitgeschichte - verstanden als Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts - ist im Bereich der Ausstellungen in der Regel darauf angewiesen, dass es zu dem gewählten Thema Objekte gibt. Das gilt für Sonderausstellungen ebenso wie für die Teile einer Dauerausstellung. Ein eigener Ausstellungstyp sind solche Veranstaltungen, die - wie vergrößerte Bücher - einen Denkraum schaffen, in dem man entlang der Zeitleiste Ereignisse kennenlernen kann. Im Gegensatz zum Buch sind sie soziale Orte - Plätze, an denen Menschen miteinander ins Gespräch kommen können, an denen sie sich gemeinsam etwas intellektuell aneignen. Wie für eine gute Unterrichtsstunde sollte dabei ein Medienwechsel stattfinden zwischen Texten, vergrößerten Fotografien, Filmen - seien es Wochenschauen oder mitgeschnittene Reden von Politikern, Dokumentar- oder Spielfilme.
(Version 1.0, siehe auch Version 2.0)Zeit ist die grundlegendste Kategorie der Geschichtswissenschaft. Historikerinnen und Historiker untersuchen, so könnte man in erster Annäherung formulieren, Wandel in der Zeit; ohne Zeit bzw. eine bestimmte Konzeption von Zeit gäbe es keine Vorstellung von Geschichte und damit auch keine wissenschaftlichen Versuche, sie zu erfassen. Auch wer behauptet, nicht Wandel, sondern Zustände zu untersuchen, interessiert sich für diese als Bedingungen für Wandlungsprozesse.
Die Mehrzahl der administrativen und privaten Gebäude der selbstverwalteten Gemeinden der aufständischen Zapatisten im Südosten von Mexiko ist mit Wandbildern bemalt. Wenn man die zapatistischen Orte besucht, ergibt sich durch die überwältigende Farbenpracht der verschiedenen Bilder der Eindruck, ein Freilichtmuseum zu betreten. Lässt sich die mexikanische Tradition des Muralismus hier neu entdecken? Doch diese Bilder werden nicht von professionellen Künstlern im Auftrag der Regierung oder von Wirtschafts- und Kunstunternehmen gemalt, sondern von den Gemeindemitgliedern selbst oder deren Unterstützern. Auch stehen die Wandbilder nicht wie bei vielen Graffiti-Künstlern oder in der Pop-Art als Kunst des Underground dem offiziellen kapitalistischen Kunstbetrieb gegenüber oder versuchen diesen zu unterlaufen. Die Zapatistischen Wandbilder sind selbst autorisierte und kollektive Werke, die aus der Mitte der Gemeinschaft kommen und am besten mit dem Begriff der „kommunalen und partizipativen Kunst“ beschrieben werden können.
Würdigung/Entwürdigung
(2022)
In der Geschichte der dokumentarischen Fotografie gibt es ungezählte Aufnahmen, die Opfer von Krieg, Gewalt und Armut zeigen. Oft ist es die erklärte Intention des Fotografen oder der Fotografin, auf Missstände aufmerksam zu machen und den Opfern, also den Abgebildeten, zu ihrem Recht zu verhelfen. Es gibt aber auch Fotograf:innen, denen das Wohlbefinden derer, die sie fotografieren, völlig egal ist. Während also die einen versuchen, die Würde des Menschen mit ihren Fotografien zu schützen oder gar wiederherzustellen, nehmen andere bewusst die Entwürdigung von Menschen in Kauf.
Wer sich mit der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung auseinandersetzt, kommt an der Zäsur 1800 nicht vorbei. Zwar existieren bereits seit der Antike Formen populärwissenschaftlicher Literatur, die im Zuge der wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert eine Ausdifferenzierung erfahren, doch beginnt der eigentliche Aufstieg im frühen 19. Jahrhundert, als die Wissenschaftspopularisierung ihre Präsentationsformen einem breiten Publikum anpasst (vgl. Schwarz 1999, 89f.). In dieser Zeit wird es nicht nur üblich, von populärer Sprache und populären Vorträgen zu sprechen. 1805 erscheint auch die erste deutschsprachige Theorie der Popularität (Greiling 1805). Der Text stellt eine Art didaktischer Unterweisung in Hinsicht auf Anordnung, Sprache und Verständlichkeit vorgetragener Sachverhalte dar. Während Popularität hier auf das Predigen und die Volksaufklärung bezogen bleibt, rückt sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam in die Nähe der (Natur-)Wissenschaft. Der Ausdruck „populär“3 etabliert sich als geläufige Bezeichnung für „gemeinfassliche“
naturkundliche Buch- und Zeitschriftenliteratur. In Wörterbüchern und Lexika, Vereinsnamen und Publikationstiteln setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich die Wortverbindung „populärwissenschaftlich“ durch.4 Sie eignet sich sowohl für die literarische Selbstbezeichnung als auch zur Markierung bestimmter Schriften, thematischer Genres und Darstellungsformen, welche dem Anspruch folgen, naturkundliche und technische Wissensbestände an ein breites Publikum zu vermitteln.
Die Restitution von Wohneigentum stellte ein großes Konfliktfeld im deutschen Einigungsprozess dar, das zugleich durch eine lange Vorgeschichte geprägt war. Eigentumsideen und -notationsformen aus dem 19. Jahrhundert sowie Praktiken aus der DDR spielten nach 1990 in die Entscheidungen der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen hinein; sie prägten Erfahrungen und Bewertungen des 1990 eingeführten Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung«. Das zugrundeliegende Vermögensgesetz wurde in den 1990er-Jahren modifiziert und berücksichtigte vermehrt DDR-Praktiken. Trotzdem dominieren in den öffentlichen Darstellungen Verlusterzählungen, vor allem aufgrund der langen Zeit der Unsicherheit bis zur endgültigen Entscheidung. Das für den ersten Teil des Aufsatzes gewählte Beispiel Kleinmachnow, das unmittelbar an das frühere West-Berlin angrenzte, stand in den 1990er-Jahren besonders im Medieninteresse. Unklar blieb aber, welche Aussagekraft es für Ostdeutschland hat. Im zweiten Teil wird deshalb nach dem Typischen dieses Falles gefragt. Zugleich wird dafür auf die besonderen Quellen der Transformationsgeschichte eingegangen: Die Sozialwissenschaften produzierten seit 1990 eine Vielzahl qualitativer und quantitativer Daten, die nun auch der Geschichtswissenschaft als Quellen zur Verfügung stehen. Vor einer Sekundäranalyse müssen sie aber wissensgeschichtlich eingeordnet werden: Die Sozialwissenschaften beobachteten den Transformationsprozess nicht nur, sondern gestalteten ihn mit. Vorgeschlagen wird hier ein integratives Verfahren, um quantitative und qualitative Ergebnisse für die Geschichtswissenschaft zu verbinden und somit zu einem besseren Verständnis der komplexen Transformationsgeschichte zu gelangen.
Die Wiedergutmachung für historisches Unrecht stellt für die Geschichtswissenschaft ein vergleichsweise junges Forschungsfeld dar. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Schlüsselproblem erkannt, wurde die Wiedergutmachung in diesem Kontext auch zu einem Schlüsselbegriff der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Benno Nietzel arbeitet in seinem Beitrag spezifisch geschichtswissenschaftliche Themenfelder und Fragestellungen heraus und zeigt darüber hinaus die Interdisziplinarität und die Internationalität der Forschungen zur Wiedergutmachung auf. Nietzel plädiert dafür, zukünftig die oftmals verstreuten und unzusammenhängenden internationalen Untersuchungen zur Wiedergutmachung in Beziehung zu setzen und sie als Teil eines übergreifenden Diskussionszusammenhanges zu begreifen.
In den gegenwärtigen Debatten um den richtigen Umgang mit der AfD werden oft Vergleiche mit der Weimarer Republik angestellt, der es nicht gelang, den Aufstieg der NSDAP zu stoppen. Vergleichbar ist die Situation heute aber auch mit den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Alliierten und später auch die Deutschen den Aufstieg nationalistischer Parteien sehr wohl zu verhindern wussten. Die DDR mithilfe eines extrem repressiven Antifaschismus, der organisierten Nationalismus quasi verunmöglichte; die Bundesrepublik mit einer antinazistischen Sicherheitspolitik, die nur eine relativ kleine Gruppe von „echten Nazis“ ausschloss und den Rest der Rechten sozial und emotional zu integrieren versuchte. Dieser Beitrag skizziert, welche Arten des Umgangs mit der Gefahr von rechts es bis etwa 1960 speziell in Westdeutschland gab, wobei das Hauptaugenmerk auf der Ideologie und Praxis der alliierten und deutschen Sicherheitsbehörden liegt. Der Ausblick handelt von den Folgen der antinazistischen Sicherheitspolitik für die Demokratieentwicklung.
Was vor einigen Jahren ein Schreckensszenario war, ist längst eingetreten. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gilt schon heute: »Quod non est in google, non est in mundo.« Freilich, eine verkürzte Sicht. Der Aufbau elektronischer Findmittel zur Durchforstung von Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeständen hat in den vergangenen Jahren ein starkes wissenschaftliches Interesse gefunden. Die Gesellschaft vernetzte sich, es entstanden viele nützliche Service-Angebote, neue Begehrlichkeiten wurden geweckt. Heute geht es nicht mehr darum, Inhalte nur zu erschließen, sondern darum, sie online zu vermitteln. In sozialen Medien werden diese Inhalte »getaggt«, »geliked«, empfohlen oder gar kommentiert. Die sammelnden Institutionen stehen damit vor einer gewaltigen Herausforderung – technisch, finanziell und vor allem konzeptionell. Mit dem Aufkommen von Bits und Bytes befindet sich die Kulturtechnik des Sammelns und Präsentierens in einem tiefgreifenden Umbruch. Der digitale Wandel impliziert die Frage, ob Gedächtnisinstitutionen künftig noch derselbe Stellenwert zukommen wird, zukommen muss wie heute: Schaffen entmaterialisierte Kulturgüter eine neue Kulturgesellschaft?
Wertewandel
(2012)
Wie haben sich Normen und Werte in modernen Industriegesellschaften verändert? Isabel Heinemann beschäftigt sich in ihrem Beitrag über den Begriff des „Wertewandels“ mit der Frage, welche Möglichkeiten für eine kritische Historisierung des ursprünglich sozialwissenschaftlichen Konzepts bestehen. Sie plädiert dafür, den Begriff aus seiner vorherrschenden Fixierung auf die 1960er- und 1970er-Jahre als vermeintlicher Kernphase des Wertewandels zu lösen, um durch den Vergleich von Phasen intensiven Wandels mit Perioden von größerer sozialer und normativer Kontinuität die Bedeutung und Reichweite von Wertewandelprozessen besser erschließen zu können.
Frauenbewegungen in ihren „langen Wellen“ (Ute Gerhard) weisen historische ‚Interferenzen‘ auf, die sich insbesondere an Konflikten, Brüchen ebenso wie Solidaritäten und Bündnissen zeigen. Diese Phänomene lassen sich in Frauenbewegungskontexten über große Zeiträume hinweg nachweisen.
In der Frauenbewegung des Kaiserreichs spielte der Konflikt zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen eine besondere Rolle, denn er führte hier zu einer selbstständigen Organisation und gezielten Mobilisierung von Arbeiterinnen jenseits der bürgerlichen Frauenvereine. Diese Konstellation erzeugte in der Geschichtsschreibung der Frauenbewegung, die mit den Aktivistinnen der ersten Welle einsetzte, von Beginn an Streitigkeiten darüber, wer zur Frauenbewegung zählte oder besser: wer nicht dazu gehören sollte.
In der Historiographie der Frauenbewegung, die anfangs von Aktivistinnen betrieben wurde, die sich selbst zum Forschungsgegenstand machten und damit ein politisches Programm verfolgten, dominierte lange die Betonung der Differenz. Die jüngere Forschung hat zwar den Blick geweitet, um der Heterogenität der Frauenbewegung im Kaiserreich Rechnung zu tragen, aber schreibt paradoxerweise die Marginalisierung der proletarischen Frauenbewegung tendenziell fort, indem sie sowohl ältere Narrative aus der Forschung übernimmt als auch implizit gegen die Renaissance der „Klassenfrage“ in der zweiten Rezeptionswelle der 1970er Jahre gerichtet ist.
Eine (schlaglichtartige) Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte erscheint lohnenswert, da dadurch Schieflagen und deren Ursachen offengelegt werden können. Wir vertreten in diesem Beitrag die These, dass sich das zeitgenössische Schicksal des doppelten Paria-Daseins der organisierten Proletarierin im Kaiserreich auf traurige Art und Weise in der gegenwärtigen Forschung wiederholt: Einerseits wird ihre Geschichte politisch marginalisiert, weil sie eine Frau ist, und andererseits, weil ihr als Sozialdemokratin/Sozialistin bis heute die eigene Autonomie abgesprochen wird.
Unser Beitrag versteht sich als Aufschlag einer möglichen Debatte und möchte dazu anregen, die proletarische Frauenbewegung als wichtige Referenzfigur der deutschen Frauenbewegungsgeschichte (wieder) wahrzunehmen, um der Heterogenität der Frauenbewegung(en) des Deutschen Kaiserreichs in einem intersektionalen Sinne gerecht zu werden.
In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sahen sich die traditionellen Informationsvermittlungsinstanzen, die Bibliotheken, nicht in der Lage, ihre Mediatorenfunktion in puncto Internet wahrzunehmen. Es blieb in dieser Gründungsepoche der Eigeninitiative selbstloser NetzenthusiastInnen überlassen, für verschiedenste Disziplinen bald so genannte Fachverzeichnisse, Themenkataloge oder Fachportale aufzubauen. Ein Teil von ihnen organisierte sich in der Virtual Library (VL), dem ältesten Web-Suchdienst, ins Leben gerufen durch den WWW-„Erfinder“ Tim Berners-Lee. Sie ist der Versuch, durch eine lose Zusammenarbeit von Experten, die jeweils für ein bestimmtes Schlagwort Indices von Webressourcen erstellen, einen Universalkatalog mit akademischer Ausrichtung zu betreiben. Als Zielgruppen, zu denen sich auch die VL Zeitgeschichte bekennt, sollen vor allem WissenschaftlerInnen, Lehrende und Studierende angesprochen werden. Die VL fordert von ihren RedakteurInnen ein, nur solche Webressourcen aufzunehmen, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen; um in der VL Zeitgeschichte gelistet zu werden, muss daher der „wissenschaftliche Nutzen“ gegeben sein (siehe die Rubrik „Aufnahmekriterien“ der Website).