20. Jahrhundert
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Dnipro oder Dnjepr? Über die Ortsnamen, die wir wählen, und die Folgen unserer Entscheidungen
(2024)
Die moderne westliche Welt bekennt sich bewusst zu Toleranz, zur Achtung lokaler Stimmen, zur Demonstration der Ideale der Gleichheit, auch auf sprachlicher Ebene. Wichtige Elemente dieses Prozesses sind das konsequente ‘Gendering‘, die Betonung der Tatsache, dass der gewählte Begriff die Gruppenidentität nicht verletzt und keine koloniale Optik reproduziert. Wie sieht die deutsche Terminologie in diesem Zusammenhang in Bezug auf die Länder Osteuropas aus? In den folgenden Ausführungen geht es nicht um die Nationalisierung der Geschichte, sondern um die Gefahr von Doppelstandards bei der Wahl der Terminologie und die Bedeutung einer angemessenen Darstellung der historischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine Darstellung, die allen historischen Akteuren Respekt zollt. Und die Komplexität der Geschichte Osteuropas vermitteln und nicht ausblenden will.
Quelle: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-14406-7.html
Dreimal feierte Berlin im 20. Jahrhundert ein historisches Jubiläum, und jedesmal diente die Stadtgeschichte der Legitimation eines anderen politischen Systems: 1937 inszenierte das NS-Regime die 700-Jahrfeier der Reichshauptstadt, und 1987 begingen Ost- und West-Berlin ihre 750-Jahrfeiern in direkter Konkurrenz. Stolze Festzüge, aufwändige Ausstellungen, reiche Verlagsprogramme und wissenschaftliche Beweisführungen untermauerten die jeweils eigene Erzählung der Stadtgeschichte. Krijn Thijs vergleicht die nationalsozialistische, die liberal-demokratische und die staatssozialistische Variante der Geschichte Berlins. Untersucht werden die Inhalte und Formen der drei historischen Erzählungen sowie ihre Entstehung unter den jeweiligen Rahmenbedingungen in Diktatur und Demokratie. Jenseits der politischen und nationalen Überformungen zeigt sich dabei, dass sich Geschichte nicht beliebig neu konstruieren lässt: Gerade in ihrer gegenseitigen Abgrenzung blieben die Erzählungen stets auch aufeinander bezogen. Der Band spiegelt die Auseinandersetzung zwischen den großen Ideologien des 20. Jahrhunderts im lokalen Raum und erschließt damit zugleich die städtische Geschichtskultur Berlins in den 1930er und 1980er Jahren. Die Studie wurde im Jahr 2007 mit dem Research Prize der Praemium Erasmianum Foundation ausgezeichnet.
Am Beispiel von Gustav Krukenberg (1888–1980), der zunächst in den 1920er-Jahren Sekretär des deutsch-französischen „Mayrisch-Komitees“ war, dann 1933 für kurze Zeit den Reichsrundfunk leitete und am Ende des Zweiten Weltkriegs zum „Inspekteur“ der französischen SS-Division „Charlemagne“ wurde, um schließlich in den 1960er-Jahren als führendes Mitglied des „Verbands der Heimkehrer“ für eine deutsch-französische Versöhnung im europäischen Rahmen einzutreten, werden drei verschiedene Typen von Verständigungs- und Europapolitik skizziert, die sich eher einer konservativ-autoritären als einer liberal-demokratischen Europa-Konzeption verdanken. Bei seiner regen Vortragstätigkeit vor allem während der 1960er-Jahre stützte sich Krukenberg auf ein christlich-abendländisches Geschichtsbild, das die Jahre 1933–1945 völlig ausblendete. Die Berufung auf „Europa“ konnte also in sehr unterschiedlichen politischen Konstellationen als verbindendes Stichwort dienen und ermöglichte ein erstaunliches Bewusstsein der Kontinuität.
Christoph Classen, Achim Saupe, Hans-Ulrich Wagner
Wie stellt sich das Verhältnis von Authentizität, Medien und Geschichte
unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne dar? Der Sammelband
führt kursorisch in dieses Dreiecksverhältnis ein und zeigt die Probleme
auf, in die das Konzept von Authentizität angesichts der
Unvermeidbarkeit von Medien in historischen und generell kommunikativen
Zusammenhängen führt.
Mit Beiträgen von: Christoph Classen, Miriam Frank, Juliane Hornung,
Judith Keilbach, Sylvia Kesper-Biermann, Georg Koch, Helmut Lethen,
Michael Ostheimer, Raphael Rauch, Brigitte Sahler, Magdalena
Saryusz-Wolska, Achim Saupe, Franziska Schaaf, Julia Schumacher, Daniel
Siemens, Katja Stopka, Hans-Ulrich Wagner
At the beginning of the 20th century population growth, urbanisation and housing shortage were challenges throughout Europe. Consequently, epidemics and even pandemics were common. However, during the same era, significant advances in medicine occurred, leading in more effective vaccines, antibiotics, and chemicals against vermin. Moreover, healthy lifestyle was promoted via campaigns, including educational posters. Simultaneously, the concept of the new, modern citizen evolved. In our research project, we analyse and compare Finnish, German and Soviet posters educating citizens in improving their everyday habits, living environments and, in the end, their health. Our aim is to find out, what were the methods and means of the visual health education of the 20th century, and what kind of ideals were pictured in health promotion posters.
Eigen-Sinn. This word – commonly rendered in English as "stubbornness" – has since become a key concept in German and even international scholarship for a specific approach referred to collectively as Alltagsgeschichte, the history of everyday life. Eigen-Sinn nowadays is a useful historiographic concept for understanding individual behaviors and actions that impact on the sphere of power and domination: submission and revolt, resistance and dropping-out. How this came about will be explained in this article by Thomas Lindenberger.
Ein Album – eine Erzählung?
(2024)
Jedes Fotoalbum hat eine Erzählung, sie verläuft auf zwei Ebenen. Eine ist im Fotoalbum selbst enthalten, und die Fotos sind ihre Eckpunkte. Die Anordnung im Album setzt die Bilder mit ihren Protagonisten, Orten und Ereignissen in Beziehung. Doch erst die betrachtende Person verbindet diese Bilder zu einer Geschichte, zu einer zweiten, die aber mit der ersten verbunden ist.
Es ist ein Jahrhundertbuch. 1901 mit über 800 Seiten erstmals veröffentlicht – bei späteren Auflagen waren es meist über 1.000 –, erreichte das Buch 1913 die erste Million. 1929 folgte eine „Neue Dritte Millionen-Ausgabe“, die zu dieser Zeit allerdings eher eine Absicht anzeigte als die tatsächlich erreichte Auflage. Denn 1969, nach mehreren Neuauflagen, Volks- und Buchgemeinschaftsausgaben meldete das Süddeutsche Verlags-Institut Julius Meyer, in dem „Die Frau als Hausärztin“ seit 1901 erschienen war, eine Gesamtauflage von „nur“ 3.365.000 Exemplaren. Die letzten Auflagen publizierte 1979, 1985 und 1993 der inzwischen von Random House aufgekaufte und eingestellte Falken Verlag.
Der Beitrag widmet sich dem Spannungsfeld von Authentizität und Medien am Beispiel der New Yorker High Society und der Gesellschaftsberichterstattung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen die New Yorker Millionäre Margaret (1902-1983) und Lawrence Thaw (1899-1965), die in den 1920er und 1930er Jahren um die Welt reisten und dabei neben zahlreichen Amateurfilmen professionelle Reisefilme mit der National Geographic Society und bedeutenden Hollywoodstudios drehten. Der Beitrag beleuchtet zum einen die narrativen und visuellen Authentisierungsstrategien der Gesellschaftsberichterstattung, die stets auf das scheinbare Privatleben ihrer Protagonist*innen abzielte. Zum anderen untersucht er, wie die Thaws eben diese Strategien in ihren Filmen reflektierten und in ein anderes Medium übersetzten. In diesem Zusammenhang stellt sich auch grundsätzlich die Frage, welchen spezifischen Quellenwert nicht-fiktionale Filme für die historische Forschung haben.
Der Mainzer Europa-Kongress im März 1955 war ein publizistisch stark beachtetes Ereignis, zudem dasjenige, mit dem das knapp fünf Jahre zuvor ins Leben getretene Institut für Europäische Geschichte erstmals bewusst den Lichtkegel der Öffentlichkeit suchte. Die Tagung wurde von mehr als 300 Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 16 Staaten besucht, sprengte die räumlichen Kapazitäten des Instituts bei weitem und musste deswegen an den prominentesten Platz der Rheinstadt verlagert werden, nämlich in das Kurfürstliche Schloss. Schon im Folgejahr, 1956, konnte der Direktor der ausrichtenden Institutsabteilung, Martin Göhring, die gedruckte Dokumentation dieses Kongresses vorlegen. Sie trug denselben Titel wie die Tagung selbst: „Europa - Erbe und Aufgabe“.
Ein Familienfest
(2024)
Welche Geschichte kann ein Bild erzählen? Am Beispiel eines Fotos aus dem Album der Familie Lindenberger, auf dem sich mehrere Generationen der Familie zu einem besonderen Anlass versammelt und diesen Moment für die Erinnerung künftiger Generationen festgehalten haben, möchte ich eine kurze Geschichte dieser Familie erzählen. Trotz wechselnder Lebensumstände ist es der Familie gelungen, ihre Geschichte fotografisch zu dokumentieren.
Klischee, Klitterei, Geschichtchen ohne Geschichte - so die schärfsten Vorwürfe in der öffentlichen Debatte um den Historienfilm „Rosenstraße“. Er erzählt die Geschichte des Protestes nichtjüdischer Berliner Frauen gegen die tagelange Inhaftierung und befürchtete Deportation ihrer jüdischen Ehemänner durch Gestapo und SS im Frühjahr 1943. Ein Film im Kreuzfeuer eines Historikerstreites: Die Deportation der jüdischen Ehepartner sei geplant gewesen, erst der weibliche Protest habe zur Freilassung der Mehrzahl der rund 1.500 bis 2.000 Inhaftierten geführt - so die einen (Nathan Stoltzfus, Gernot Jochheim). Die Inhaftierung habe ‚nur’ der Auswahl von Ersatzkräften für zu deportierende „Volljuden“ gedient, die folgende Freilassung der „Mischehen-Partner“ sei bereits beschlossen gewesen - so die anderen (Wolf Gruner, Wolfgang Benz).
Als der Verfasser dieses Textes 2009 seine Dissertation abschloss, lagen insgesamt 49 World Press Photos of the Year vor. Seit 1955 waren sie durch eine in den Niederlanden ansässige Stiftung mit unablässigem Einsatz aus der immer größer werdenden Flut von Einsendungen herausdestilliert worden. Dass 2014 mehr als 5000 professionelle Fotografen rund 100.000 Fotos zur Begutachtung einsandten, illustriert den enormen Stellenwert dieses eigentlich impertinenten Preises. Steht es einem Foto tatsächlich zu, das Pressefoto des Jahres zu sein? Kann es in seiner endlichen Anzahl von Bildelementen die theoretisch unendliche Komplexität eines Jahres dahingehend verdichten, einen absoluten Bezugspunkt in der retrospektiven Betrachtung seiner Zeit zu verankern? Und lassen sich darüber hinaus überhaupt nachvollziehbare Maßstäbe für die Wahl eines Pressefotos des Jahres formulieren, die sich zumindest nachträglich aus der Analyse des Materials ableiten lassen?
Ein jüdisches Fotoalbum!?
(2024)
Joseph und Helene Lindenberger kommen aus jüdischen Familien. Im Jahr 1938 flohen sie mit ihren Kindern vor den Nazis nach Palästina. Damit handelt es sich um ein Fotoalbum aus jüdischer Perspektive! Doch wo finden sich vermeintlich jüdische Symbole, Orte oder aber das Wort „jüdisch“? Und wo zeigt sich die Verfolgung durch die Nazis? Welche Hinweise geben uns die eingeklebten Fotos oder die Bildunterschriften darauf, dass es sich um das Fotoalbum einer jüdischen Familie handelt?
Mit seinen Aufnahmen dokumentierte der Istanbuler Fotograf Ergun Çağatay (1937 – 2018) den Alltag zahlreicher türkeistämmiger Familien in fünf deutschen Städten im Frühjahr 1990. Çağatays Portraits aus Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg bilden die bis heute umfangreichste Bildreportage zur türkeistämmigen Einwanderung in Deutschland.
Noch bis zum 10. April 2023 sind diese Fotografien im Rahmen der Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ im Museum Europäischer Kulturen (MEK) in Berlin zu sehen. Vor der Station in Berlin wurde die Ausstellung in unterschiedlichen Formaten in Ankara, Çanakkale, Essen, Hamburg, Istanbul, İzmir und Zonguldak gezeigt.
Zum Kurator:innen-Team der Ausstellung gehören Stefanie Grebe, Meltem Kücükyilmaz, Alexandra Nocke und Peter Stepan. Für visual-history.de führte Historikerin Janaina Ferreira dos Santos am 17. Dezember 2022 im MEK ein Gespräch mit Meltem Kücükyilmaz.
Was macht ein Foto privat oder öffentlich? Laut Fachliteratur ist dies abhängig vom Kontext: der Entstehung und Verwendung des Bildes. Entscheidend für die Bestimmung sind demnach der Fotograf, das Motiv, die Absicht des Fotografen sowie die Intentionen der abgebildeten Personen und nicht zuletzt der nachfolgende Gebrauch der Fotografie.
Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, näherte sich das russische Kriegsschiff Moskwa der Schlangeninsel. Die Aufforderung an die auf der Insel stationierten ukrainischen Soldaten, sich zu ergeben, wurde mit einem vulgären Ausdruck quittiert, der auf Deutsch sinngemäß (wenn auch bedeutend abgeschwächt) mit „Russisches Kriegsschiff, verpiss dich“ übersetzt werden kann. Umgehend wurde dieser Spruch unter Ukrainer*innen und sich Solidarisierenden aufgegriffen, auf Demonstrationen sowie in den sozialen Medien reproduziert und der Mut des Soldaten gefeiert: Die Schlangeninsel wurde zu einem Symbol von Heldentum, Widerstand und Trotz und ist seitdem in aller Munde. Doch ‚gibt‘ es die Schlangeninsel nicht erst seit dem Februar 2022 – diese Insel spielte auch schon vorher eine Rolle, und das nicht nur für die Ukraine bzw. Russland. Grund genug, auf die Zeit vor der Ankunft des ‚russischen Kriegsschiffes‘ zu schauen.
Die Kuratorin des Jüdischen Museums Berlin trägt Handschuhe, während sie die 31 Seiten des Fotoalbums umblättert. Sie hat das Album der Familie Lindenberger für unser Projekt im Rahmen des Public History-Studiengangs ausgewählt. Wir, Studierende und Dozentin, stehen im Kreis um sie herum und betrachten die 95 dort eingeklebten Fotografien. Eine Woche später sehen wir uns im Seminarraum der Freien Universität Berlin die Fotografien des Albums noch einmal an. Biografische Angaben zur Geschichte der Familie haben wir aus dem Jüdischen Museum erhalten. Sie ermöglichen die Identifikation und familiäre Zuordnung vieler Bilder. Langsam werden uns die auf den Fotografien dargestellten Menschen vertraut, und wir erkennen schließlich die engsten Familienmitglieder auf den ersten Blick.
Michael Lindenberger, der das Fotoalbum seiner Großeltern dem Jüdischen Museum Berlin stiftete, sprach im Interview über seine bewegte Familiengeschichte, den Nachlass seiner Eltern und seinen Wunsch, die Erinnerungen zu bewahren. Das Fotoalbum der Familie Lindenberger stammt aus dem Jüdischen Museum Berlin, wo es zwar teilweise erfasst, aber noch nicht vollständig erschlossen oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Aus diesem Grund wurde es für das Projekt ausgewählt.
Historiker und Historikerinnen, zumal jene der jüngeren deutschen Geschichte, beschäftigen sich am liebsten mit Recht, wenn es nicht weh tut. Der Boom der Menschenrechtshistoriographie steht dieser Diagnose ebensowenig entgegen wie die Flut an Behördengeschichten der NS-Zeit. Beide Trends bestätigen vielmehr den Befund, versteckt sich hinter den Etiketten doch nicht selten eine klassische Politikhistorie, oft in der Gestalt einer Gesetzgebungsgeschichte, aufgelockert durch und verwoben mit ideen- und diskurshistorischen Elementen. Dies erlaubt es einerseits, sich von der etablierten, meist juristisch definierten Rechtsgeschichte abzusetzen, der vorgeworfen wird, zu einer sterilen Dogmengeschichte erstarrt zu sein. Andererseits hält man an tradierten Arbeitsteilungen fest: Die lästige, wiewohl notwendige Pflichtaufgabe, sich in die technischen Einzelheiten des Rechts zu vertiefen, darf aus der eigenen Zuständigkeit entlassen werden. Entsprechend begrenzt bleibt der wissenschaftliche Austausch: Rechtswissenschaftler/innen lesen historiographische Arbeiten als leichte Lektüre für den Hintergrund; Historiker/innen rezipieren die Studien ihrer juristischen Kolleg/innen als sprödes Fußnotenfutter. Dass der fächerübergreifende Kontakt zuletzt vor allem durch regierungsseitig initiierte Projekte über die NS-Belastung einzelner Ministerien und Behörden vorangetrieben wurde, bestätigt diese Beobachtung eher, als dass sie widerlegt würde.