1 / 2022 Offenes Heft
»Wir bummeln langsam die Donau hinab in Richtung Wien […].« Mit diesen Worten wandte sich am 29. Juli 1956 ein Reisender auf der Rückseite einer Ansichtskarte an seine Familie in Berlin. »Liebe kleine Mutti, liebe Omi, liebe Kinderchen!«, so redete er die Seinen an und unterzeichnete die Karte mit »Vati«. Der Absender war, zusammen mit seiner Frau, in Österreich unterwegs. Sein Postkartengruß ist auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, denn derartige stereotype Botschaften wurden viele verschickt. Bei genauerem Hinsehen aber ist diese Karte anders. Denn auf ihrer Bildseite ist nicht eine beliebige Donaulandschaft zu sehen, sondern die Stadt Mauthausen, die in der Nachkriegszeit zu einem Symbol für die nationalsozialistische Herrschaft in Österreich wurde. Die Geschichte der Gewalt, die sich in dieser Stadt zutrug, kommt auch auf der Rückseite der Karte zur Sprache.
Ein 16mm-Film, aufgenommen im Frühsommer 1941. Familie und Hausangestellte haben sich im Garten der Villa Regenstreif im 18. Wiener Gemeindebezirk versammelt. Die Anwesenden sind festlich gekleidet, sie plaudern und scherzen beim Nachmittagskaffee. Fröhliche Stimmung herrscht auch in den darauffolgenden Aufnahmen eines gemeinsamen Essens. Dann ein harter Schnitt: Ein Lastwagen, bepackt mit Koffern, fährt ab. Die drei Söhne der Familie sitzen auf der Ladefläche, sie winken der Kamera entgegen. Daraufhin sieht man die beiden jüngeren Buben in Anzug und Krawatte – sie treten auf der Terrasse drei unbekannten Personen gegenüber. Dem Mann, von dessen Jackettkragen das NSDAP-Abzeichen blitzt, schütteln sie höflich die Hand und überreichen ihm ein Körbchen. Darin befinden sich die Schlüssel zur Villa Regenstreif. Mit ihrer Übergabe wird die Enteignung durch die Nationalsozialisten und die Vertreibung der Familie aus dem Elternhaus endgültig vollzogen – und zwar vor laufender Kamera.
Geographische Informationssysteme (GIS) wurden bereits seit den 1960er-Jahren mit der beginnenden Computerisierung der Geographie entwickelt. Ihr Konzept folgt der Idee, Daten bzw. Informationen in ihren Raumbezügen zu organisieren und analysierbar zu machen. Mit der Weiterentwicklung und wachsenden Leistungsfähigkeit digitaler Infrastrukturen sind inzwischen komplexe Datenmodelle, flexiblere Datenformate, neue Formen der Visualisierung sowie umfassende geostatistische Analysen möglich geworden. Zudem sind kartographische Visualisierungen nicht mehr nur statisch, sondern in einem GIS können überdies Veränderungen der Daten im Zeitverlauf dargestellt und untersucht werden. Der Einsatz von GIS ist aus Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und medialer Kommunikation kaum noch wegzudenken. Die Produkte der Arbeit mit GIS umgeben uns vielerorts, oft ohne dass wir uns der dahinterliegenden Architekturen und Annahmen bewusst sind. Aktuelle Debatten über die Sammlung zeit- und geocodierter Daten, etwa über Mobiltelefone, um Personengruppen – Konsument*innen, Migrant*innen, Geflüchtete, Bürger*innen – retrospektiv, in Echtzeit oder mit prädiktiven Modellen auf der Grundlage biometrischer und/oder sozialer Daten zu tracken, haben mit Recht Fragen zum Datenschutz und zu ethischen Implikationen dieser Technologien aufgeworfen. Anwendungen GIS-basierter Technologien, etwa bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, dem Tracking von Verbreitungs- und Infektionswegen, der Entwicklung von Krisenreaktionsstrategien oder der medialen Kommunikation der Situation scheinen uns zugleich die beträchtlichen Potentiale der raum-/zeitsensiblen Datenanalyse – in Echtzeit – zu vermitteln. Deutlich wird, dass die ethischen, methodischen und epistemologischen Effekte der Verbreitung digitaler Werkzeuge zur Durchdringung wachsender und zunehmend komplexer Datenbestände einer mehrdimensionalen Reflexion bedürfen, die augenblicklich nur mühsam mit der Expansion der technischen Möglichkeiten Schritt hält.
In der aktuellen Debatte um Holocaust, Kolonialismus und Erinnerung hat Per Leo jüngst angeregt, dass Historikerinnen und Historiker irritierende Fragen stellen sollten. Diesem, wie ich finde, klugen Vorschlag folgend, möchte ich hier diskutieren, ob und inwieweit die Rede von der Singularität des Holocaust angemessen, sinnvoll, erkenntnisfördernd ist. Wie ist sie (in der Bundesrepublik) entstanden, und worin könnte heute ihre Aussagekraft liegen? Müsste die Perspektive nicht erweitert werden? Solche Fragen führen in das Zentrum einer Debatte, die hierzulande seit der Auseinandersetzung vom Frühjahr 2020 um den afrikanischen postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe heftig entbrannt ist, dem der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein vorwarf, den Holocaust zu relativieren. Die vor allem in den Feuilletons geführte Debatte verschärfte sich, als der in den USA lehrende Historiker A. Dirk Moses im Mai 2021 mit einem provokanten Essay die deutsche Erinnerungskultur kritisierte: In der Fixierung auf den Holocaust würden die Kolonialverbrechen ausgeblendet. Die Kontroverse um Antisemitismus auf der diesjährigen documenta bildete mit den schrillen Tönen zweifellos den vorläufigen Tiefpunkt dieser Debatte. Nachdenkliche Argumente wie von Micha Brumlik, Sebastian Conrad, Charlotte Wiedemann oder Natan Sznaider scheinen kaum noch Gehör zu finden.
Zeitgeschichte neurodivers? Standpunktepistemologie und (geschichts-)wissenschaftliche Kommunikation
(2022)
In der akademischen wie der breiteren Öffentlichkeit ist der Begriff der Diversität gegenwärtig nahezu universal anschlussfähig. Der Gründungsdirektor des Göttinger Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften Steven Vertovec stimmt gar Loretta Lees zu, die schon 2003 bemerkte, mit Diversität verhalte es sich wie mit Mutterschaft oder Apfelkuchen: Man könne nur mit größeren Schwierigkeiten dagegen sein. In den letzten dreißig Jahren ist Diversität zunächst in den USA und dann auch in Westeuropa sowohl als sozialwissenschaftliche Analysekategorie wie auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und zur Aushandlung von Teilhabeansprüchen immer bedeutsamer geworden. Diversität ist das normative Leitbild staatlicher und internationaler Antidiskriminierungsprogramme, die, wie etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 in der Bundesrepublik, »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität […] verhindern oder […] beseitigen« sollen (§ 1). Das öffentliche Bekenntnis zu Diversität ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit in Unternehmen und Organisationen, die oft Strategien des Diversitätsmanagements entwickeln. Der Ursprung dieser gesellschaftlichen Diversitätsbejahung liegt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, der zweiten Frauenbewegung, aber auch der Gay-, Lesbian- und Transgender-Bewegung sowie der Behindertenrechtsbewegung, die vor allem seit den 1970er-Jahren in den USA und in Westeuropa für die Anerkennung ihrer marginalisierten und diskriminierten Subjektpositionen stritten.
Armut in China. Anspruch und Wirklichkeit der chinesischen Agrarpolitik seit den 1950er-Jahren
(2022)
Es sind vor allem die Erfolge bei der Überwindung der Armut, die der von der chinesischen Kommunistischen Partei unter Xi Jinping geführten Regierung Legitimation im Inneren und internationale Reputation verschaffen. Diese Erfolge werden von Institutionen wie der Weltbank oder der UNESCO bestätigt, die in ihren Veröffentlichungen die Zahl von über 800 Millionen Menschen nennen, die in China ab 1978 »aus der Armut gehoben worden« seien. Aber wie plausibel sind solche Erfolgsmeldungen? Die Analyse einer Vielzahl von Quellen zur Entwicklung der Armut seit den 1950er-Jahren zeigt, dass die Armutsdaten unzuverlässig und widersprüchlich sind. Des Weiteren wird deutlich, dass die sich wandelnden Strategien für die Landwirtschaft nicht das Ziel hatten, die Armut zu überwinden. Vielmehr sollte die staatliche Agrarpolitik vor allem billige Arbeitskräfte und finanzielle Ressourcen für Investitionen in Industrie und Infrastruktur bereitstellen. Nicht die agrarpolitischen Maßnahmen des chinesischen Staates, sondern die ländliche Bevölkerung selbst sorgte durch vielfältige Aktionsformen und Anpassungsstrategien für eine bescheidene Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Entgegen dem ersten Augenschein in den glitzernden Metropolen ist China weiterhin kein reiches Land. Nach wie vor bildet die Armut der Landbevölkerung die strukturelle Voraussetzung für das industrielle Wachstum.
In der Diskussion um den Strukturwandel der 1970er- und 1980er-Jahre haben musikkulturelle Vergemeinschaftungen bisher kaum eine Rolle gespielt. Der Aufsatz analysiert den Wandel von Klassenzuschreibungen an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Musikgeschichte über einen regionalen und räumlichen Zugriff. Dazu werden die Working Men’s Clubs im englischen Nordosten mit ihrer Verknüpfung von Arbeiterkultur und jugendkultureller Individualisierung während der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) als Orte eines gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert. Wie gestaltete sich dort der Übergang von strukturellen zu kulturellen Klassenbeziehungen, und welche Folgen hatte dies für die weitere Entwicklung der Heavy-Metal-Kultur? Die Anbindung der NWOBHM an die Arbeiterklasse ermöglichte es einer entstehenden »neuen Mittelschicht«, zu der die Musiker häufig selbst gehörten, an der empfundenen Authentizität der »Working Class« zu partizipieren, während gleichzeitig postindustrielle Elemente mit einem jüngeren, auch weiblichen Publikum Einzug in die Working Men’s Clubs hielten.
Dieser Aufsatz erklärt die enorme Resonanz von Günter Wallraffs Bestseller »Ganz unten« (Erstausgabe 1985) mit den emotionalen Bedürfnissen und der soziokulturellen Verfasstheit der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Buch artikulierte soziale Abstiegsängste während einer wirtschaftlichen Strukturkrise mit hoher Arbeitslosigkeit. Es präsentierte eine binäre Weltsicht, die die expressive Emotionskultur der 1980er-Jahre reflektierte. Die nahezu apokalyptische Darstellung der westdeutschen Industriegesellschaft und ihres menschenverachtenden Umgangs mit migrantischen (Leih-)Arbeitern stand im Einklang mit der Weltsicht eines wachsenden grün-alternativen Milieus. Im Gegensatz zur populären Erinnerung war das Buch jedoch kein Wendepunkt in der öffentlichen Repräsentation der türkischen »Gastarbeiter«, für deren Erfahrungen Wallraff nach seiner Undercover-Recherche als »Ali« zu sprechen schien. Vielmehr verdeutlichte »Ganz unten« massive Defizite im Umgang mit Differenz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre, gerade auch auf der Linken. Nicht Wallraffs Buch, sondern die damalige, bisher vernachlässigte deutsch-türkische Kritik daran markiert eine historisch signifikante antirassistische Traditionslinie, die bis in die Gegenwart reicht.
Zu diesem Heft
(2022)
War es in den Jahren 2020/21 vor allem die Corona-Pandemie, die von vielen als gravierende Zäsur wahrgenommen wurde, so ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 noch ein ganz anderer Ereigniszusammenhang von existentieller Bedeutung hinzugetreten, dessen mittel- und längerfristige Folgen erst teilweise absehbar sind. Während der Buchtitel »Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende?« aus dem Frühjahr 2022 schon klingt wie aus einer längst vergangenen Epoche, wird die Frage »Beginnt jetzt eine neue Zeit?« nun unter veränderten Vorzeichen gestellt oder die »Zeitenwende« und das »Ende der Globalisierung« gleich forsch behauptet. Eine im besten Sinne akademische Tagung über »Epochenwenden und Epochenwandel« erhielt im April 2022 eine so nicht erwartete Aktualität; das Organisationsteam schrieb dazu: »Das Thema hat uns in der Gegenwart eingeholt und vielleicht schon überholt.« Allerdings gehört zur geisteswissenschaftlichen Arbeit immer auch die Skepsis gegenüber eiligen Zeitdiagnosen und Zäsurbehauptungen, wie etwa der aus Indien stammende Politikwissenschaftler Parag Khanna betont hat: »Wir sollten uns vor großspurigen Proklamationen hüten, die unsere Zeiten auf den Punkt bringen wollen. Solche Prägungen erfassen nur den Moment, der gerade vergangen ist, und sind garantiert bald wieder passé.« Nun mag selbst eine derartige »Garantie« des Vorläufigen fragwürdig erscheinen, wenn es doch »überdeutliche Symptome des Umbruchs, der tiefen Zäsur« gibt, wie der Historiker Jörn Leonhard hervorgehoben hat. Mit Rückbezug auf Reinhart Koselleck betont er die grundsätzlich enge Verbindung von »Zäsur und Wiederholung«, von »Einmaligkeit der Geschichte« und ihrer »Rekurrenz«.
In this issue
(2022)
In 2020/21 it was first and foremost the Covid pandemic that many experienced as a major turning point; now the Russian war of aggression against Ukraine since 24 February 2022 has added a whole new set of events of existential significance, whose medium- and long-term consequences we can only partly foresee. The title of a book published in the spring of 2022, Der 11. September 2001 – (k)eine Zeitenwende? (11 September 2001 – A Historical Turning Point?), has come to sound like something from a bygone age. The question ›Is this the beginning of a new era?‹ is now posed under altered circumstances, and a ›historical turning point‹ and the ›end of globalisation‹ are proclaimed in equally adamant fashion. An academic – in the best sense of the word – conference on ›New Eras and Epochal Change‹ in April 2022 acquired an unanticipated immediacy. The organising team wrote: ›We have been outrun and perhaps even rendered irrelevant by events.‹ But humanities scholarship also entails a certain scepticism towards hasty diagnoses of the times and proclamations of turning points, as scholars including the Indian-born political scientist Parag Khanna have underscored: ›We should avoid grandiloquent proclamations that seek to encapsulate our times. Such characterisations can only capture the moment that has just passed and are guaranteed to quickly be outdated.‹ Of course even such a ›guarantee‹ that any statements can only be provisional may seem questionable when there are ›unmistakable symptoms of upheaval, of profound rupture‹, as the historian Jörn Leonhard has emphasised. With reference to Reinhart Koselleck, he underscores the fundamentally close link between ›rupture and repetition‹, between the ›singularity of history‹ and its ›recurrence‹.