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Der koloniale Blick auf Osteuropa. Der Auftritt von Harald Welzer als Symptom deutscher Schieflagen
(2024)
Am 8. Mai 2022 war in der Talkshow von Anne Will der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema. Die Gäste waren der Generalsekretär der SPD Kevin Kühnert, der ehemalige CDU-Politiker Ruprecht Polenz, der Botschafter der Ukraine in Deutschland Andrij Melnyk, die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann sowie der Soziologe/Sozialpsychologe Harald Welzer. Jede Einladungsliste einer Talkshow folgt einer bestimmten Logik: Es sollen konträre Positionen aufeinandertreffen und Repräsentant:innen aus Medien, Gesellschaft und Politik und (manchmal) der Wissenschaft vertreten sein. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass diese Runde durchaus gut gewählt war mit Stimmen bei denen es absehbar war, dass die Debatte kontrovers werden würde. Tatsächlich aber war die Rollenzuweisung Welzers von vorneherein problematisch: Er ist zwar zweifelsohne ein ausgewiesener Wissenschaftler, der mit "Opa war kein Nazi" auch für die Geschichtswissenschaft ein wichtiges Buch vorgelegt hatte, Osteuropa-Expertise besitzt Welzer hingegen nicht.
Musik begleitete die Souveränitätskämpfe und Nationsbildungsprozesse der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert und brachte dabei eines der zentralen Narrative der ukrainischen Geschichte zum Klingen: die Geschichte vom langen Kampf um die Unabhängigkeit. Sie erzählt von der ukrainischen Behauptung gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik, die Habsburgermonarchie, das russische Zarenreich und die Sowjetunion. Schützen- und Rebellenlieder begleiteten die ukrainischen Befreiungskämpfe rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sie sind bis heute aktuell. Ertönten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts patriotische Marschlieder, so änderte sich der Klang der Musik in der zweiten. Barden- und Kobsarenmusik wurden zum Ausdruck von Dissens besonders in der Sowjetukraine, als auch in der gesamten Sowjetunion. Und auch im Übergang der Ukraine vom sowjetischen zum postsozialistischen Staat war die Musik Teil der aufflammenden zivilgesellschaftlichen, kulturellen und politischen Souveränitätsbewegung. Im Vorfeld des Eurovision Song Contest, den die Ukraine wegen des Krieges in Großbritannien ausrichtet, lohnt sich ein Blick zurück auf die Verschränkung von Musik und Politik in der unabhängigen Ukraine.
Die erstmalige persönliche Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an der diesjährigen UN-Vollversammlung 2023 in New York und an einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats haben die Abwesenheit des von ihm angesprochenen Gegenübers, des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sichtbar gemacht – eine Leerstelle, die aufgrund der Forderung des russischen UN-Botschafters, dem ukrainischen Präsidenten das vorgesehene Eröffnungsstatement der Sicherheitsratssitzung im letzten Moment zu entziehen, noch deutlicher wurde. Nach der Annexion der Krim hatte sich Putin 2015 noch mit einer Rede an die 70. UN-Generalversammlung gewandt, in der er unter anderem auch den Krieg der Separatisten im Donbas gegen die Ukraine zu rechtfertigen suchte. Den Wettbewerb um die globale Medienöffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit Wladimir Putin mit dem Besuch des wieder ernannten chinesischen Außenministers Wang Yi im Kreml am selben Tag zu gewinnen versuchte, hat der ukrainische Präsident aktuell wohl für sich entscheiden können.