DDR
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Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der »autogerechten Stadt«
(2017)
Das Automobil steht gegenwärtig wieder einmal im Brennpunkt breiter gesellschaftlicher Debatten um Themen wie Elektromobilität, Car-Sharing, »autonomes Fahren« und verwandte Fragen. Darin kommt ein tiefer Umbruch der automobilen Kultur zum Ausdruck. Wie Konflikte um Fahrverbote in den Innenstädten, den Abriss automobiler Infrastrukturen oder die Erweiterung autofreier Zonen zeigen, erfasst dieser Umbruch auch und gerade die (großen) Städte. Vor dem Hintergrund eines sich andeutenden Abschieds von der Automobilität der Hochmoderne in den metropolitanen Räumen Europas und Nordamerikas gewinnt auch die retrospektive Reflexion über Entwicklungslinien und Wendepunkte der Raumentwicklung im Zeichen des Automobils in »seinem« 20. Jahrhundert stark an Interesse. Dies gilt umso mehr, als der epochemachende Leitbegriff der »autogerechten Stadt« die Genese und die Probleme städtischer Automobilität mehr verdeckt als freilegt.
Als der Generalsekretär L. I. Breshnew 1977 das sechzigjährige Jubiläum der Revolution feierte, hielt er mit dem Schlagwort vom „entwickelten Sozialismus“ einen Zustand fest, der das Vermächtnis der Revolution als einen Besitzstand beschwor. Dieses Schlagwort war 1971 auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU in Umlauf gesetzt worden und sollte ein gleichgewichtiges Wachstum mit einer stärkeren Berücksichtigung der Konsumwünsche der Bevölkerung signalisieren. Die alternde Sowjetführung verstand „entwickelten Sozialismus“ als das realisierte, aber zunehmend pragmatisch umgesetzte Erbe Lenins (und Stalins). Der Name des letzteren wurde seit 1967 nur noch im Zusammenhang mit dem Triumph im Großen Vaterländischen Krieg genannt, obwohl die Nachkriegsstruktur der Sowjetunion auf den Fundamenten ruhte, die Stalins Regime gelegt hatte. Was Breshnew unter seiner Definition von Sozialismus subsumierte, gab sich als das Resultat einer Spirale von Kämpfen und Siegen aus. Nun konnte sich im entwickelten Sozialismus eine „sozialistische Lebensweise“ entfalten. Diese wurde auf dem XXV. Parteitag (1976) als eine „Atmosphäre genuinen Kollektivismus und Kameradschaft“ beschrieben, „als Solidarität und Freundschaft aller Nationen und Völker des Landes“, und schließlich als „moralische Gesundheit, die uns stark und standhaft macht“. In diesem Sozialkitsch manifestierte sich die Selbstzufriedenheit eines juste milieu, der Breshnew-Generation, die unter Stalins Terror sozialisiert, einen beispiellosen Aufstieg aus subalternen Schichten erlebt hatte und den eigenen Erfolg - zu Recht oder zu Unrecht - mit den Siegen im Großen Vaterländischen Krieg und dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht verknüpfte.
Geschlechterverhältnisse innerhalb der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung eher eine marginale Rolle. Es war vor allem die interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, die die Auswirkungen des Systemwechsels in der früheren DDR in den Blick nahm. Die Fülle der bis in die frühen 2000er Jahre entstandenen Forschungen trug Karin Aleksander in ihrer Bibliographie „Frauen und Geschlechterverhältnisse in der DDR und in den neuen Bundesländern“ zusammen.
Die Erforschung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die bislang vor allem im Rahmen der Politikwissenschaft und der Soziologie erfolgt ist, bedarf dringend der Ergänzung durch zeithistorische Forschungsperspektiven, Fragestellungen und Methoden. In diesem Zusammenhang schlage ich einen akteursorientierten Forschungsansatz vor. Im Mittelpunkt stehen hierbei diejenigen Äußerungsformen des Komplexes „Rechtsextremismus“, in denen einzelne Personen sowie – vor allem – Parteien, Organisationen, Verbände, Vereine, Bewegungen, Netzwerke, Medien und Verlage, Freundeskreise, Klein- und Kleinstgruppen Aktivitäten entfalten. Außerdem werden die soziopolitischen Milieus in den Blick genommen, welche die Lebenswelt der sogenannten Akteur*innen und Gruppen konstituieren. Rechtsextreme Personengruppen und Organisationen handeln historisch zwar nicht im luftleeren Raum, aber sehr wohl als eigenständige Subjekte mit spezifischen Strategien, Interessen und pfadabhängig entstandenen Handlungsmustern.
Anfang 2014 konnte der rund 50.000 Aufnahmen umfassende Nachlass des Fotografen Wolfgang G. Schröter (1928–2012) zusammen mit zahlreichen Arbeitsabzügen, Belegexemplaren, der Handbibliothek und biographischen Dokumenten von der Deutschen Fotothek für das »Archiv der Fotografen« übernommen werden. Schröter gehörte zu den paradigmatischen Ausnahmefotografen der frühen DDR. Unter Nutzung der Methoden von Wissenschafts- und experimenteller Fotografie entwickelte er eine eigene Bildsprache, die avantgardistische internationale Fotografie-Entwicklungen aufgriff, ohne diese zu imitieren. Schröters frühe farbfotografische Experimente wurden 1977 im Zuge der Nobilitierung der Fotografie als künstlerisches Medium in der Hallenser Ausstellung »Medium Fotografie« gewürdigt. Bis heute werden seine Aufnahmen in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.
Die DDR-Elitenforschung geht zunehmend über politikgeschichtliche Problemformulierungen bzw. die „klassische“ Sozialprofilanalyse hinaus und nimmt kultur-, mentalitäts- und alltagsgschichtliche Fragestellungen in den Blick; das Interesse richtet sich auf Einstellungen und Wertorientierungen, Arbeits- und Lebensstile, auf Habitus und Alltagspraxis von Eliten. Die folgende Studie thematisiert, mit exemplarischem Anspruch, einen Ausschnitt aus dieser Problematik: den Verwaltungsstil der zentralen Planbürokratie der DDR - der Staatlichen Plankommission (SPK) und der Branchenministerien - in der ersten Fünfjahrplanperiode.
Ausblick. Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR
(2008)
Netzwerktheorien sind aus den technischen Disziplinen und aus der allgemeinen Systemtheorie, aus den Naturwissenschaften, aus Ökonomie und Soziologie auch in die Geschichtswissenschaft „hineingewandert“. Die einschlägige Forschung hat sich, hierfür ist der vorliegende Band ein Beleg, in den letzten beiden Jahrzehnten stark verdichtet und ausdifferenziert. Sie hat damit allerdings auch eine Mode welle generiert: vor allem in kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten wird der Netzwerk-Begriff ausufemd, oft mit unverkennbar normativer Konnotierung (Netzwerk als „guter“, weil angeblich nichthierarchischer Modus von Vergesellschaftung) verwendet. Häufig degeneriert er zur vagen Metapher, generell wird als analytisches Passepartout überschätzt.
Mit den kollektiven Umbruchserfahrungen nach 1989/90 gingen auch individuelle Erfahrungsumbrüche einher. DDR-spezifische Wissens-, Erfahrungs- und Erinnerungsbestände, ideologisch geprägte Geschichtsbilder und über Jahrzehnte erprobte Handlungsmuster wurden mit der Friedlichen Revolution umfassend in Frage gestellt. Die ostdeutschen Transformationsprozesse brachten zugleich ganz lebenspraktische und alltagsbezogene Herausforderungen mit sich. Sicherheiten und Gewissheiten verschwanden mit dem Ende des SED-Staates. Neue Interpretationen und neue Grenzen des Sagbaren entwickelten sich rasch. Es wurde ein Justieren der Erfahrungs-, Erinnerungs- und Wissensbestände im gesamtdeutschen Setting notwendig, bei dem auch vermeintlich ostdeutsche Identitäten (neu) verhandelt wurden. Diese Um-Deutungsprozesse gingen einerseits mit hitzigen und hoch emotional geführten gesellschaftlichen Debatten einher, andererseits mit ganz individuellen Verlusterfahrungen, mit Um- und Aufbrüchen in allen Gesellschaftsbereichen.
Im historischen Rückblick stellen sich viele Fragen über die DDR noch einmal. Die heutigen Antworten weichen aber mitunter nicht unerheblich von früheren Antworten ab. Dies ist nicht allein auf das Auffinden neuer Daten, Fakten und Quellen zurückzuführen, sondern vielfach auch auf veränderte Denkmuster und andere theoretische Analysemodelle. Die auf dieser Grundlage mögliche Neuinterpretation betrifft unter anderem den historischen Platz, den Charakter der Produktionsweise und die Definition der Wirtschaftsordnung der DDR, darüber hinaus aber auch ihr Verhältnis zur Bundesrepublik. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Wirtschaft der DDR im Kontext der Debatte um den Fordismus als Produktions- und Sozialmodell der westlichen Welt zu analysieren und dabei auf einige, bisher in der komparativen DDR-Forschung wenig beachtete Aspekte aufmerksam zu machen.
Viele Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts stützen sich auf das »konsumistische Narrativ«: die These, dass die Arbeitsgesellschaft der ersten durch die Konsumgesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte abgelöst worden sei. Betrachtet man dagegen die im Aufsatz besprochenen jüngeren arbeits- und konsumgeschichtlichen Studien, wird erstens deutlich, dass die Etablierung arbeitsgesellschaftlicher Phänomene im Laufe des 20. Jahrhunderts nur langsam erfolgte. Zweitens gewannen konsumgesellschaftliche Strukturen und Angebote nicht erst seit dem »Wirtschaftswunder« der Zeit nach 1945 an Bedeutung, sondern bereits in der ersten Jahrhunderthälfte. Konsum- und arbeitsgesellschaftliche Aspekte, so die These, etablierten sich im deutschsprachigen Raum nahezu parallel. Erstere ersetzten letztere nicht – vielmehr ergänzten sie sich. Vor diesem Hintergrund wird abschließend nach Ansätzen gefragt, die über das konsumistische Narrativ hinausführen.
Nach 1989 feierten Kommentatoren den finalen Triumph des kapitalistischen Marktes über seinen letzten Widersacher, den sozialistischen Plan. Aber die krisenhaften Wirtschaftsumbauten in der ehemaligen DDR und in Ost(mittel)europa standen noch bevor. Was meinten Ökonomen, Wirtschaftspolitiker oder Manager dieser Umbauprozesse eigentlich, wenn sie von Märkten sprachen? Der Beitrag richtet den Blick auf Vorstellungen im Kontext der 1990 gegründeten Treuhandanstalt und fokussiert Akteure, die in der Rückschau oft als marktgläubige »Exekutoren« des westlichen »Neoliberalismus« auf einem östlichen »Experimentierfeld« kritisiert werden. Deren Marktkonzeptionen fielen keineswegs einheitlich aus; sie konnten einen idealen Endzustand oder aber einen radikalen Prozess meinen. Auch der Glaube an die Gestaltbarkeit von Marktmechanismen erwies sich als wechselhaft. Eine Analyse zeitgenössischer Experteninterviews, die 1992/93 im Auftrag der Treuhand geführt wurden und jetzt wiederentdeckt werden konnten, offenbart schließlich ein breites Spektrum an individuellen Marktdeutungen aus der Alltagspraxis der ostdeutschen Transformation.
Es ist etwas in Bewegung geraten in der ohnehin komplizierten deutsch-deutschen Erinnerungslandschaft. Nach dreißig Jahren wandeln sich die Rückblicke auf die jüngste Vergangenheit. Im Fokus steht dabei die Zeitenwende von 1989/90, die Deutschland und Europa wieder intensiv umtreibt. Eine neue Welle von Populismen und Nationalismen spült scheinbar vergessene, verdrängte oder überwunden geglaubte Fragen zu den materiellen wie ideellen Erbschaften von Staats- und Postsozialismus erneut an die Oberflächen. Als zuletzt auch die sonst in dieser Hinsicht so schweigsame Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview gegenwärtig – angesichts bisweilen heftiger publizistischer Debatten – ein ostdeutsches „1968“ aufdämmern sah, wurde offensichtlich: Vormals festgefügte Meister- beziehungsweise Siegererzählungen (West?) und hierauf bezogene Gegen- beziehungsweise Opfererzählungen (Ost?) werden brüchig und verlieren an Überzeugungs- und Bindekraft.Politische, generationelle, wissenschaftliche und kommunikativ-technologische Dynamiken überschneiden sich in einem nur schwer überschaubaren Geflecht aus vielfältigen Interessen, Meinungen und Emotionen. Und mittendrin: eine gerade erst dieses neue Feld empirisch für sich entdeckende Zeitgeschichtsforschung.
Sowjetisierung und Amerikanisierung der sozialistischen Staaten gelten als Gegensätze. Als die DDR in den 1960er Jahren eine technische „Auto-Amerikanisierung“ einleitete, lehnte die Sowjetunion diese jedoch keineswegs ab. Sie förderte sie vielmehr im Rahmen eines transnationalen technischen Großprojekts, des „Einheitlichen Systems der Elektronischen Rechentechnik“ (ESER). Die Übernahme westlicher Technik sollte dazu beitragen, den Westen zu „überholen“, ohne ihn zuvor „einholen“ zu müssen. Zugleich fürchtete man in Partei und Staat, dass durch den Technologietransfer auch westliches Gedankengut in die DDR einsickern könnte. Daher wurde dort, wo die Herrschaft der SED gefährdet schien, die Kontrolle schnell wieder verschärft.
Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT“ im Jahr 1979 die DDR darstellten.
(2009)
Die heutige Lektüre des Buches irritiert, so eigenartig und doch auch vertraut wirkt das vor 30 Jahren entworfene DDR-Bild. Die Texte und Fotos wurden zwischen Herbst 1978 und Sommer 1979 zunächst als einzelne Reportagen im „ZEIT“-Magazin veröffentlicht. Die Journalistin Marlies Menge und der Fotograf Rudi Meisel waren seit 1977/78 die ersten akkreditierten „ZEIT“-Korrespondenten in der DDR - und blieben es bis 1990. Der Hanser-Verlag brachte sieben dieser Beiträge als großformatigen Bildband heraus. Meisel erhielt dafür 1979 den Kodak-Fotobuchpreis.
Schwitzende Werkarbeiter in der DDR, Menschen im Porträt, Bilder als kombinierte Triaden, die ihnen einen neuen Sinn geben – die aktuelle Werkschau des Berliner Fotografen Ludwig Rauch erzählt im Cottbusser Dieselkraftwerk Geschichte und Geschichten. Es geht um die DDR, um Menschen und ihre Biografien: sichtbar gemacht in Porträts und Serien. Das Altern, der Tod und vor allem das Leben sind Motive in Rauchs Werkschau, die er unter dem Titel Noch ein Leben zusammenfasst. Auf drei Etagen begegnen die Ausstellungsbesucher unterschiedlichsten Arbeiten, die auf teilweise überraschende Weise zusammengehören.
Der Western im Osten. Genre, Zeitlichkeit und Authentizität im DEFA- und im Hollywood-Western
(2004)
„Die Söhne der großen Bärin“ (1966) war der erste von insgesamt 13 Westernfilmen der DEFA. Die Resonanz des DDR-Publikums war überwältigend – ähnlich wie bei den Karl-May-Verfilmungen in der Bundesrepublik. Der Anspruch der DEFA lautete, „Abenteuerfilme in historischem Gewand“ zu zeigen. Durch geschichtliche Korrektheit wollte man den Gründungsmythos der USA, der im Filmgenre des Western massenmediale Verbreitung erfahren hatte, und auch das tagespolitische Geschehen kritisch kommentieren. Bei einem Vergleich des DEFA-Films „Ulzana“ (1974) und der US-Produktion „Broken Arrow“ (1950), die beide Authentizität reklamierten, wird deutlich, wie an Konventionen von Filmgenres angeknüpft und zugleich durch eine Fiktion von historischer Realität versucht wurde, diese Konventionen zu überwinden. Der Aufsatz untersucht, ob und inwieweit die DEFA-Produktionen das Genre Western ästhetisch und inhaltlich umwandelten.
Im September 1976 veröffentlichte Heinrich Böll, Literaturnobelpreisträger und einer der meistbeachteten Schriftsteller der Bundesrepublik, die Besprechung eines gerade veröffentlichten Buches, dessen Autor zwar in der DDR lebte, seinen Text jedoch beim kleinen Werner Gebühr Verlag in Stuttgart zum Druck gegeben hatte. Faszination und Anziehung versprach der schmale Band schon wegen seiner Entstehung »im Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik« (so Böll); deshalb wurde er unter einem Pseudonym – Carl-Jacob Danziger – veröffentlicht. Größer noch war das Interesse aber, weil es sich bei dem Buch mit dem ironisch distanzierten und in Anführungszeichen gesetzten Titel »Die Partei hat immer recht« um den autobiographischen Roman eines Schriftstellers handelte, der sich zuerst voll und ganz dem sozialistischen Selbstverständnis der DDR verschrieben, mit seinem Buch nun jedoch die Geschichte seiner Enttäuschungen vorgelegt hatte. »Danzigers schlimmste Sünde aber ist, daß er sich für Realismus und nicht für sozialistischen Realismus entscheidet«, fasste Böll die von Danziger niedergelegte Konfrontation seiner einstigen sozialistischen Utopie mit der Realität des DDR-Sozialismus zusammen. Hier lag die Geschichte einer Entfremdung und Abwendung vor. Auch deshalb wurde Danzigers Roman in der Bundesrepublik schnell große Aufmerksamkeit zuteil; Journalisten würdigten ihn als Ausdruck von »zivilem Ungehorsam«, »Auswurf des Gewissens« und einer persönlichen Abrechnung mit der Partei.
Die geschichtswissenschaftliche Erforschung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in den beiden Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ steht erst in ihren Anfängen, aber ihre Tücken zeichnen sich bereits ab. Eine der Schwierigkeiten besteht darin, daß die Thematik, jedenfalls in der „alten“ Bundesrepublik, über Jahrzehnte hinweg ein zentraler Topos der politischen Essayistik gewesen ist. Der Kern des Problems - definiert nicht als die zu Beginn der sechziger Jahre Dynamik gewinnende „Verdrängungsdebatte“, sondern als die konkrete historisch-politische Auseinandersetzung mit den ererbten Lasten und den alliierten Vorentscheidungen seit Ende der vierziger Jahre und vor allem in den Fünfzigern - ist deshalb überlagert von vielfältigen Meinungsschichten, Deutungen und Kontroversen, durch die hindurchzudringen die Aufgabe entsprechender historiographischer Bemühungen sein muß. Die in letzter Zeit erschienenen Arbeiten zur Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik leisten dies jedoch kaum, und einige davon vermitteln im Gegenteil den Eindruck, als ob sie sich von der so lange vorherrschenden meinungsorientierten Betrachtungsweise gar nicht lösen wollten. Eine Geschichtswissenschaft, die diesen Namen verdient, muß aber alles daransetzen, beim Sturm auf tatsächliche oder vermeintliche alte „Legenden“ nicht neue zu produzieren. Das gilt zumal in einem Moment, in dem das für die Westdeutschen von jeher aufregende Thema durch die neugewonnene Möglichkeit des empirischen Vergleichs mit der Entwicklung in der DDR - ganz zu schweigen vom Vergleich mit der hier ausgeklammerten „zweiten Bewältigung“ seit 1989/90 - noch an Brisanz gewinnt.
Die DDR ist vierzig Jahre am Leben geblieben, bevor sie - unwahrscheinlich schnell - unterging. Jetzt, wo der Westen der „Sieger der Geschichte“ zu sein scheint, sagen viele, daß die DDR im Grunde nur auf Terror und Repression aufgebaut war. Der alte Begriff vom „Unrechtsstaat“, wie auch das Konzept des „Totalitarismus“, die in den fünfziger Jahren so beliebt waren, finden wieder Gefallen. Manche sagen auch, daß „die Deutschen“ seit eh und je besonders gehorsam gewesen sind.
Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Kohls Zitat, das deutsche Einwanderungsbehörden schon seit 1945 zum Leitmotiv ihrer Arbeit gemacht hatten, war weniger deskriptiv als präskriptiv gemeint. Bei der Zuwanderung nach Deutschland sollte es weder einen „Kolonialbonus“ für Auswanderungswillige aus den ehemaligen Überseegebieten geben, noch kam die deutsche Regierung auf die Idee, durch Bevorzugung von Migrant:innen oder „Gastarbeiter:innen“-Rekrutierung aus den ehemaligen Kolonien Wiedergutmachungspolitik zu betreiben, wie es zum Beispiel die englische Regierung mit der Einladung an die „Windrush-Generation“ aus karibischen Ländern zwischen 1948 und 1971 getan hatte.
Was ist der Unterschied zwischen einem Trabi und einem Düsenjäger?
Den Düsenjäger sieht man, bevor man ihn hört. Beim Trabi ist es umgekehrt.
Autos aus der Produktion der sozialistischen Staaten gelten als überholt, schadstoffreich und besonders laut. Dies ist nicht erst eine retrospektive Sicht. Für die Besitzer solcher Autos in der Zeit der deutschen und europäischen Teilung waren sie sehr ambivalente Artefakte: Einerseits waren die Mängel offenkundig, anderseits erfuhren die Autos Wertschätzung und Zuneigung, weil der Erwerb eines Pkws nach jahrelanger Wartezeit als wichtiges Zeichen der sozialen Distinktion galt. Die Achtung gegenüber diesen Fahrzeugen war sogar derart verbreitet, dass selbst ein Kind schon anhand der Motorengeräusche erkennen konnte, ob es sich um einen Trabant oder einen Volga handelte. Ein Grund dafür ist selbstverständlich, dass es im Ostblock nur eine begrenzte Anzahl von Autoherstellern gab. Aber hauptsächlich beruhte diese Fähigkeit, Motorgeräusche voneinander zu unterscheiden, auf der persönlichen Erfahrung mit den Autos, die sehr intensiv sein konnte. Der Fokus auf die Geräusche und die Materialität dieser Fahrzeuge erlaubt es daher zum einen, manche Missstände der staatssozialistischen automobilen Gesellschaften kenntlich zu machen; zum anderen gewährt er einen tieferen Einblick in die Alltags- und Erfahrungsgeschichte der Autofahrergemeinschaften.
Keine Institution des Staates DDR hat seit dessen Zusammenbruch solche Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Bei der Aufarbeitung dieses „erschreckendsten und zugleich groteskesten Teils des SED-Herrschaftssystems“ herrschte und herrscht ein erheblicher Nachholbedarf - und aufgrund der nach Art und Maß einmaligen Aktenöffnung besteht auch eine gute Chance, zu grundlegenden Wissensfortschritten über diesen Eckpfeiler des Staatssozialismus zu gelangen. Ihrer Genese nach steht diese Aufarbeitung in einem dezidiert politischen Kontext, der den Diskurs über das in der Zeitgeschichte ohnehin übliche Maß hinaus prägt. Die folgende Skizze befaßt sich mit den in diesem Zusammenhang eher vernachlässigten hauptamtlichen Mitarbeitern, die die Funktion der Staatssicherheit als wichtigstem repressiven Instrument der Parteidiktatur praktisch ausführten und die Herrschaftsinteressen gegenüber inoffiziellen Zuträgern und „Publikum“ vermittelten und durchsetzten. Im folgenden soll untersucht werden, welchen Platz das Personal der Staatssicherheit innerhalb der soziopolitischen Gesellschaftsstruktur der DDR einnahm, inwiefern sich diese Position funktional und intentional als „elitär“ definieren läßt und welche besonderen Ausprägungen das Selbstverständnis der MfS-Mitarbeiter im Kontext des „kollektiven Bewußtseins“ im Staats- und Parteiapparat der DDR aufwies. Zudem sollen genetische Ursprünge und soziobiographische Grundlagen dieses Selbstbildes Umrissen und schließlich Erosionsprozesse in der Endphase der DDR in den Blick genommen werden.
Während des Kalten Krieges wurde in Millionen Wohnzimmern, Kasernen und Schulen gespielt: Klassische Unterhaltungsspiele wie Memory bzw. Merk-Fix, aber auch Spiele wie Fulda Gap oder Klassenkampf, die die Systemkonfrontation als Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse erleb- und simulierbar machten. Der Aufsatz betrachtet eine in der zeithistorischen Forschung und in den Cold War Studies bislang vernachlässigte Quellengattung, die gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren für die populärkulturelle Vermittlung von Grundcharakteristika des Ost-West-Konflikts sehr bedeutsam war. Untersucht wird, wie sich Brett- und Computerspiele in die Wettkampflogik des Kalten Krieges einschrieben, inwiefern sie für die Systemkonfrontation auf beiden Seiten sinnbildend waren, nationale Spezifika aufwiesen oder aber als Foren der Gesellschaftskritik dienten. Deutlich wird auch, wo für die jeweiligen Obrigkeiten die Grenzen des »Spielbaren« lagen. Den eigenen Untergang als Handlungsmöglichkeit oder Dystopie zu erproben, erschien vielfach als moralisch und politisch bedenklich, weil die in Spielen entwickelten Szenarien womöglich den Blick auf die Realität verändern und Kritik verstärken konnten. Andererseits konnten die Spiele aber auch die Veralltäglichung des Kalten Krieges unterstützen: Sie bereiteten Wissen über militärische Sachverhalte auf und trugen zur Gewöhnung an das atomare Drohpotential bei.
„We do not reward failure“. Brett- und Videospiele zum Kalten Krieg in Ost und West (1977–2017)
(2017)
Wie Brett- und Computerspiele für eine geschichtswissenschaftliche Perspektive fruchtbar gemacht werden können, erkundeten wir im Sommersemester 2017 mit Augsburger Studierenden. Thematisch nahm das Projektseminar bewusst den Kalten Krieg und die Systemkonfrontation als Anker, da die Auseinandersetzung der Supermächte bis in die jüngste Gegenwart ein beliebtes Motiv in Spielen darstellt. Bereits zeitgenössisch hatte der Kalte Krieg auch den Bereich der Populärkultur durchdrungen, wie die neuere Forschung klar zeigt.[5] Im Seminar untersuchten wir Spiele aus dem Osten ebenso wie aus dem Westen, Brettspiele ebenso wie Computerspiele, zeitgenössische Spiele aus der Zeit der Blockkonfrontation ebenso wie nach dem politischen Wandel 1989/1991 publizierte, um ein möglichst breites Spektrum abzudecken.
Anhand von Kemritualen der DDR, erweitert und ergänzt um Beispiele aus der Sowjetunion, den Volksrepubliken Polen und Ungarn, aus der Tschechoslowakei und aus Albanien sollen hier strukturelle Elemente einer politischen , Rhetorik des Performativen‘ im Sozialismus der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre bilanzierend herausgearbeitet werden. Sodann wird eine methodologische Faustskizze die kommunikationstheoretischen und kulturgeschichtlichen Implikationen einer Ritualforschung zwischen ,Botschaft' und ,Bedeutung' umreißen, um schließlich eine erste Annäherung an die Aneignungsgeschichte sozialistischer Rituale zu wagen - nicht zuletzt auch unter generationengeschichtlicher Perspektive.
Warum ist der keine fünf Jahre nach dem Ende des SED-Regimes erschienene Aufsatzband „Sozialgeschichte der DDR" ein Meilenstein der historischen Forschung zum untergegangenen ostdeutschen Staat? Vor allem deshalb, weil dort differenzierte Fragestellungen und Arbeitshypothesen formuliert wurden, die die Forschung zur DDR bis heute prägen. Die einzelnen Beiträge vereint die Frage, wie sich die Geschichte der DDR in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einordnen lässt, ob die Brüche oder doch eher die Kontinuitäten überwogen und wie sich die historischen Vörprägungen durch die NS-Diktatur auf den verschiedenen Ebenen von Staat und Gesellschaft bemerkbar machten. Der Gesichtspunkt der nationalen Pfadabhängigkeit wird in immer wieder neuer Perspektive aufgegriffen: Die Autoren diskutieren neben den Ähnlichkeiten mit der NS-Diktatur Aspekte des Systemvergleichs und der Systemkonkurrenz der DDR mit der Bundesrepublik; aber auch die Weimarer Republik und selbst das Kaiserreich werden keineswegs ausgeblendet. Kursorische Vergleiche mit anderen ost- und westeuropäischen Ländern erlauben schließlich wichtige Thesen über das spezifisch „Deutsche" in der DDR-Geschichte.
Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Deutscher Arbeitsfront und Freiem Deutschen Gewerkschaftsbund
(2003)
Ein Vergleich von Diktaturen, nicht zuletzt von »Drittem Reich« und DDR, ist ein schwieriges Unterfangen, ebenso der Vergleich einzelner Institutionen, Organisationen oder anderer, gesonderter Aspekte beider deutscher Diktaturen. Das gilt auch, wenn Organisationen wie die beiden Pseudo- Gewerkschaften Deutsche Arbeitsfront (DAF) und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) untersucht werden, die - oberflächlich betrachtet - eine ganze Reihe frappierender Ähnlichkeiten aufwiesen und bereits deshalb einen Vergleich nahelegen.
Wer sich von Berlin-Spandau aus Ende der vierziger Jahre auf den Weg nach Hamburg machte, sah sich, nach den ersten Kilometern seiner Reise, in eine seltsam anmutende Szenerie versetzt. Unmittelbar nach der Ortsdurchfahrt Nauen und kurz vor Ribbeck im Havelland passierte die alte, baumbestandene Femstraße 5 die idyllischen Dörfer Lietzow und Berge. Quer über die damals noch holprige und eher verschlafen wirkende Dorfstraße hingen hier, im Abstand von 500 Metern, rote Losungsbanner. Sie forderten den Reisenden zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung in Deutschland, zur Steigerang der Produktion sowie zum Kampf für den Frieden und gegen den US-Imperialismus auf. Vor solcher Art parteilichem Übereifer blieben in der Konsequenz auch nicht die Kirchgemeinden verschont.
Von den Toten der Berliner Mauer nimmt Peter Fechter (1944-1962) im kollektiven Gedächtnis einen herausgehobenen Rang ein. Schon unmittelbar nach seiner gescheiterten Flucht wurde in der Berliner Zimmerstraße nahe dem ehemaligen Checkpoint Charlie ein Denkmal in der Form eines Holzkreuzes errichtet, das man am 13. August 1999 durch eine Stahlstele ersetzte. Jährlich legten und legen Delegationen Kränze am Denkmal nieder. Fernsehdokumentationen informierten 1997 aus Anlass des Prozesses gegen die Mauerschützen. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Peter Fechter deswegen für viele als der erste Tote an der Berliner Mauer überhaupt.
»Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.« So lautet das letzte der 1958 von Walter Ulbricht verkündeten »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« (auch: »Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«), die von 1963 bis 1976 Teil des SED-Parteiprogramms waren.1 Die sozialistische Variante der christlichen Zehn Gebote findet sich häufig auf der ersten Seite von »Brigadetagebüchern«, die Beschäftigtenkollektive in der DDR und in anderen staatssozialistischen Ländern verfassten. Über die Grenzen der DDR hinaus stellten auch »Freundschaftsbrigaden« der Freien Deutschen Jugend (FDJ) solche Brigadetagebücher zusammen, um ihre Aufenthalte in Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu dokumentieren. Diese Quellen geben einen wertvollen Einblick in die sozialistische Globalisierung und deren Alltagspraktiken.
Bürokratopoly ist ein vom DDR-Museum, gemeinsam mit Playing History herausgegebenes Spiel. Dabei handelt es sich um eine für den Schulunterricht aufbereitete Version eines Brettspiels, das 1983/84 in der DDR von dem Oppositionellen Martin Böttger für den Privatgebrauch entwickelt wurde, sich aber auch im politischen Untergrund verbreitete. Das Ministerium für Staatssicherheit bescheinigte dem Spiel einen „negativ-feindliche[n]“ Charakter und legte eine Stasi-Akte an.
Ob Unterhaltungssendungen, Spielfilme, aufbereitete Filmberichte in Nachrichtensendungen oder die Berichterstattung über internationale Sportereignisse, die über die Bildschirme flimmerten - ihre Produktion, Beschaffung, Auswahl und Sendung war vom politischen Koordinatensystem des Kalten Krieges beeinflusst. Die nationalen Femsehanstalten und internationalen Televisions-Systeme wetteiferten um wachsende Zuschauerzahlen und dienten als kulturelles Bindemittel im Kampf der Ideologien und Wertsysteme. „In a number of cases, this factor of geographical proximity has been used to beam programme directly across the borders for political purposes. The best-known example of this is in Germany where the East and East Germans conduct an elaborate, expensive form of electronic war-fare aimed at attracting each other's television audiences.“
Trotz und wegen der Blockbildung wuchsen somit spezifische Formen von Beziehungen zwischen den ost- und westeuropäischen Verbundsystemen von Femsehorganisationen, zwischen dem DDR-Femsehen und den Femsehanstalten in der Bundesrepublik, die im Folgenden aus der Sicht des DDR-Femsehens, damals als „Deutscher Fernsehfunk“ (DFF) bezeichnet, näher betrachtet werden sollen.
Die sozialistischen Vordenker Marx, Engels und Lenin begründeten die „sozialen Ursachen“ der Kriminalität mit dem herrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystem, dessen „ökonomische Basis die Wurzel allen Übels“ sei. Das Verbrechen sei keine dem Menschen angeborene Eigenschaft, sondern „historisch entstanden und wird mit dem Sozialismus/Kommunismus allmählich überwunden“. Entsprechend teilte auch die DDR-Führung die Sicht, dass „mit der Liquidierung der Ausbeuterordnung in der DDR die wesentlichen Wurzeln der Kriminalität verschwunden [sind]. Das ermöglicht [es] erstmalig in der deutschen Geschichte, die Vorbeugung der Verbrechen zur Aufgabe der gesamten Gesellschaft zu machen.“
Magdeburg, 18. September 1985: Das neue Schuljahr in der DDR ist zwei Wochen alt, als eine junge Lehrerin für die Vertretungsstunde in der 9. Klasse eingeteilt wird. Ihren Englischunterricht kann sie nicht fortsetzen und so gibt sie den Schüler:innen spontan eine andere Aufgabe: „Schreibt doch mal auf, wie ihr euch das Leben im Jahr 2010 vorstellt!“ Im Gegensatz zum regulären Unterricht macht sie den Jugendlichen keinerlei Vorgaben, was der Text beinhalten soll, und wartet gespannt auf die Ergebnisse. Als sie die Aufsätze am Abend liest, überraschen die Zukunftsträume der Jugendlichen sie völlig. Die Schüler:innen träumen von offenen Grenzen, von schnellen Autos und dem Besitz eines Eigenheims. „Wenn das deine Parteisekretärin findet, dann ist deine Karriere ja ganz schnell vorbei!“[1], befürchtet sie und beschließt daher, die 23 Texte für sich zu behalten.
Über 30 Jahre später blicken wir nicht nur auf das Jahr 2010, sondern auch auf die untergegangene DDR zurück.
Bevölkerungstransfers sowie Flucht- und Vertreibungswellen, deren Komplexität und Nachhaltigkeit eine neue Qualität erreichten, kennzeichneten den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach. Die nationalsozialistische Ideologie vom „Lebensraum im Osten“ zwang Hunderttausende von Menschen, ihre angestammten Siedlungsgebiete zu verlassen und sich an andere, von den neuen Machthabern zugewiesene Wohnorte zu begeben. Dies geschah oft unter schrecklichen Umständen. Nicht-Deutsche mußten ihren Platz räumen für diejenigen, die - unter sowjetischer Herrschaft lebend - „Heim ins Reich“ geholt wurden. Mit dem Vormarsch der Roten Armee und der sich damit abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches setzten sich die Flüchtlingstrecks der deutschen Bewohner der Ostgebiete Richtung Westen in Bewegung. Die anschließend auf der Potsdamer Konferenz von den Alliierten beschlossene Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus ihren östlichen Siedlungsgebieten sollte „innerhalb der neuen Grenzen Frieden stiften und die Minderheitenprobleme ein für allemal bereinigen“. Doch gelang es aus unterschiedlichen Gründen nicht, diese Beschlüsse vollständig umzusetzen und alle Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auszusiedeln. Auch in den Jahrzehnten nach dem Abschluß der offiziellen Vertreibungen verließen Hunderttausende von Deutschen die Staaten des ehemaligen Ostblocks, um in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln.
Margaret Thatcher soll einmal gesagt haben, dass die Menschen alle dreißig Jahre etwas radikal Neues wollen. In dieser Lesart wäre es folgerichtig, dreißig Jahre nach dem letzten großen historischen Einschnitt auch Deutungen der Geschichte neu zu kontextualisieren. Nicht ohne Grund erleben wir aktuell, dass die Ereignisse der Friedlichen Revolution, der Deutschen Einheit und der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung auch in den Fokus historischer Betrachtungen geraten. Der Abstand von einer Generation bedeutet, dass wir nunmehr allmählich von der Perspektive der Erinnerung in die Perspektive des Historisierens übertreten.
Wagen wir einmal einen Blick zurück: Auch der Umgang mit der NS-Geschichte verlief in verschiedenen Etappen. Es brauchte über zehn Jahre, bis es etwa mit Filmen wie „Rosen für den Staatsanwalt“ erste Formen der Auseinandersetzung gab. Die Auschwitz-Prozesse, der Umgang mit der Erstausstrahlung der Reihe „Holocaust“ oder auch die Frage nach dem Umgang mit dem 8. Mai – all dies waren Episoden in einem jahrzehntelangen Ringen um den Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Was allgemein als Errungenschaft von „68“ gewertet wird, nämlich ein Wandel im Umgang mit der Vergangenheit, um daraus auch ein neues Selbstverständnis für die Gegenwart abzuleiten, war in Wirklichkeit ein mühsamer Prozess, der bereits früher begann und länger als einen Protestsommer andauerte. Die Debatten um die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1985 oder der Historikerstreit der 1980er Jahre zeigten, wie hart selbst fast zwei Generationen nach Kriegsende noch um ein Geschichtsbild gerungen wurde. Die Auseinandersetzung über das Selbstbild, den Umgang mit Geschichte und den Folgerungen daraus sind eine jahrzehntelange Arbeit ist, die mit dem Abstand einer Generation eher beginnt, als das sie endet.
Die Geschichte der Aussiedlung sudetendeutscher Antifaschisten und ihrer Integration in die Nachkriegsgesellschaft der SBZ/DDR gehört in den Gesamtzusammenhang der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa sowie ihrer Integration in die Gesellschaft der beiden deutschen Teilstaaten. Unter den insgesamt etwa vier Millionen geflohenen, vertriebenen und ausgesiedelten Deutschen, die in der sowjetischen Besatzungszone verblieben, bildeten die über 800 000 Deutschen aus der Tschechoslowakei die zweitgrößte Gruppe. Etwa 50 000 von ihnen, mehrheitlich ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) und der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei (DSAP), kamen als sogenannte Antifa-Umsiedler in die SBZ.
Die Geschichte der Pädagogischen Fakultäten (und damit der einheitlichen universitären Lehrerausbildung) in der SBZ/DDR ist kurz: Sie begann 1946, als an den Universitäten in Berlin, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig, Rostock bzw. an der Technischen Hochschule Dresden Pädagogische Fakultäten eingerichtet wurden, und endete 1955 als Folge einer vom Ministerium für Volksbildung 1953 erlassenen Verordnung zur Auflösung derselben.
Existierten in der Gesellschaft der DDR überhaupt Eliten? Die Antwort auf diese Frage ist umstritten. Wenn es Eliten gab, was machte sie dazu, wie agierten sie, wer gehörte zu ihnen? Andererseits, wenn sie fehlten, wer oder was befand sich an ihrer Stelle und warum? Oder gab es in der sozialen Struktur der sozialistischen Gesellschaft gar keine adäquaten Funktionen und Positionen, die sich einer Elite zuschreiben ließen? Solche Fragen verweisen auf ein kontrovers diskutiertes Thema, dem sich im Laufe der neunziger Jahre auch die zeithistorische DDR-Forschung verstärkt zuwandte. Die in diesem Sammelband vereinten Beiträge sind aus dieser Diskussion hervorgegangen.
Der 3. Oktober 2010 war der zwanzigste Jahrestag der deutschen Einheit. Ursprünglich sollte auch das Spiel 1378 (km) an diesem Tag erscheinen. Doch entspann sich im Vorfeld der Veröffentlichung eine scharfe Kontroverse um das Spiel und seine Inhalte, so dass das Erscheinungsdatum auf Dezember desselben Jahres verschoben wurde.
Als „Elite der Eliten“ sind die Hochschullehrer einmal bezeichnet worden - natürlich von einem Hochschullehrer - und wie so oft, wenn Professoren über den eigenen Beruf nachdenken, mischen sich auch in dieser prätentiösen Formulierung Selbstverständnis und Selbstbeschreibung. Die Geschichte der modernen Hochschullehrerschaft ist immer auch eine Geschichte ihrer Selbstinszenierung gewesen, in Deutschland wahrscheinlich mehr als anderswo, angefangen vom Humboldtschen Gründungsmythos bis zu immer neuen Reflexionen über die „Idee der Universität“. Normatives und Deskriptives sind da oft schwer zu trennen. Der Elitestatus der Hochschullehrer war und ist gewissermaßen doppelt begründet: Auf der einen Seite strukturell und funktional. Als Universitätslehrer vermittelten sie dem Nachwuchs der akademischen Berufe das fachliche Leistungswissen, als hervorragende Vertreter des Bildungsbürgertums hatten sie an der Definition und Weitergabe eines fachübergreifenden, die bürgerlichen Schichten integrierenden „Bildungswissens“ Anteil und als Angehörige der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft galten sie als Prototyp des innovativen Forschers. Sie repräsentierten den Typus einer meritokratischen Leistungselite - wenn auch ihr Charakter als sozial exklusive Herkunftselite und vom Amtsprestige getragene Positionselite noch lange Zeit die offene Leistungskonkurrenz verzerrten. Auf der anderen Seite gründete sich der Elitestatus der Professoren immer auch auf ihren Anspmch auf Kompetenzkompetenz, auf Definitionsautonomie über den eigenen Status. Diese Identitätskonstruktionen knüpften an ihre funktionale Stellung an, gingen aber über sie hinaus. Sie meldeten Ansprüche an, leisteten Sinnzuschreibungen, grenzten Zuständigkeitsräume ab. Ob man die Einheit der Wissenschaften oder disziplinäre Spezialisiemng betonte, welche Autonomieforderungen man an Staat und Gesellschaft richtete und welche eigenen Sinnstiftungsansprüche man umgekehrt gegenüber der Gesellschaft erhob, ob man Forschung, Lehre oder allgemeine Bildung ins Zentrum des Berufsverständnisses rückte, ob man sich als Bewohner des Elfenbeinturmes, als Bürger oder als homo politicus verstand - all dies war Gegenstand eines andauernden Selbstverständigungsdiskurses.
Der ostdeutsche Fotograf Christian Borchert (1942–2000) verstand sich als „Chronist seiner Zeit“. Seine Serie „Familienporträts“ wurde schon vor 1989 in der DDR und in der Bundesrepublik im Kontext bildender Kunst gezeigt – trotz oder sogar wegen der sachlichen, dokumentarischen Perspektive auf die DDR-Gesellschaft. Mittlerweile ist Borchert unverrückbar in den kunsthistorischen Kanon eingegangen, und seine Bilder fehlen auf kaum einer Ausstellung zur Fotokunst in der DDR. Besonders 2009 fand anlässlich der 20-jährigen Jubiläen des Mauerfalls und der „friedlichen Revolution“ eine Fülle von Ausstellungseröffnungen zur DDR-Fotografie statt. Sozialdokumentarische Bilder konnten – als vermeintlich ideologiefreie „Wirklichkeitsbilder“ rezipiert – problemlos im Kunstkontext untergebracht und zugleich als aussagekräftige Quellen der Vergangenheit präsentiert werden. Der Interessenschwerpunkt lag dabei auf der „inoffiziellen“ Fotografie aus der DDR. Diese Tendenz hält bis heute an, und so ließ auch die 2012 eröffnete Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“ in der Berlinischen Galerie, wo einige der „Familienporträts“ vertreten waren, die „offiziellen Bildwelten“, den Bereich der angewandten Fotografie und der Amateurfotografie außen vor. Zwar bildete die sozialdokumentarische, erzählerische Fotografie, die sich ab den 1970er-Jahren als Autorenfotografie emanzipiert hatte, in der DDR tatsächlich den Kern der künstlerischen Fotografie, doch haben sich deren Spezifika grundlegend aus der sozialistischen Fotografieästhetik entwickelt. Dass zwischen „non-konform“ und „offiziell“ nicht klar zu trennen ist, lässt sich mit Christian Borcherts Familienbildern sehr gut belegen.
Schwarze Löcher
(2019)
Im Jahr 1993 oder 1994 zeigte mir mein Vater ein wackeliges Video. Er und seine ehemaligen Arbeitskollegen hatten gemeinsam ein Schwein aufgezogen, und nun sollte jeder seinen Anteil bekommen. Im Video sah man, wie die Sau über den Hof getrieben wird, dann bindet sie jemand am Hinterlauf fest. Das Tier wird „Wessi“ getauft. Die Männer johlen, das Bier fließt. Dann wird Wessi mit einem Bolzenschussgerät niedergestreckt, das Schwein zappelt am Boden, jemand sticht in die Halsschlagader, das Blut strömt in einen bereitgestellten Bottich. Mein Vater wirft sich auf die Sau, um sie zu fixieren. Es ist der 7. Oktober, das Datum des ehemaligen „Tags der Republik“ der DDR. Das Schwein wird mit kochendem Wasser übergossen und abgeschabt. Wessi wird zu Wurst verarbeitet.
In der DDR entwickelte sich eine staatssozialistische „Geltungskunst“, die man als „DDR-Kunst“ oder „Kunst der DDR“ bezeichnen könnte im Unterschied zu den vielfältigeren Formen einer „Kunst in der DDR“. Diese mit dem politischen Projekt eng verbundene Kunst sollte von allen historischen wie zeitgenössischen Moderne-Anhaftungen bereinigt werden, was in der Komplexität künstlerischer Produktions- und Rezeptionsweisen allerdings nur ansatzweise gelang. Auch wenn der Wirkungsgrad jener an einer didaktischen Symbolisierung der sozialistischen Leitideen beteiligten Künste die Erwartungen der Machthaber nur unzureichend erfüllte, so blieb die Kunst des „Sozialistischen Realismus“ doch innen- wie außenpolitisch ein unverzichtbares Instrument der Herrschaftslegitimation. Die SED-Funktionäre versuchten, den „Sozialistischen Realismus“ als Widerpart zum westlichen Modell einer kosmopolitischen „Weltkunst“ in Stellung zu bringen. Somit wurde für die offizialkulturelle Kunstproduktion der DDR anstatt des intrinsischen Moderne-Konfliktes zwischen Autonomie und institutionalisierter Kunst von Anbeginn eine andere Gegensatzspannung prägend – die zwischen Ost und West.
Die öffentliche Wahrnehmung der Transformationen in den postsozialistischen Ländern ist in zweierlei Hinsicht unterbelichtet: Sie ist räumlich begrenzt, indem sie den Fokus auf jeweils national begrenzte Fälle im ehemaligen Ostblock richtet. Sie ist zeitlich begrenzt, indem sie den Fokus auf die Jahre des raschen Systemumbaus richtet und allenfalls die Jahre unmittelbar davor einbezieht. Transformationen ganzer Gesellschaften, so wollen wir an einer alltagsrelevanten Institution zeigen, greifen aber auch auf Ressourcen zurück, die viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen und gerade im zentraleuropäischen Raum schon immer einen zugleich nationalen und transnationalen Charakter hatten. Die Rede ist von der Freiwilligen Feuerwehr als einem seit Mitte des 19. Jahrhunderts in allen Ländern des Deutschen Reichs wie auch der Österreichisch-Habsburgischen Monarchie verbreiteten Muster der lokalen Selbstregierung (self governance). Unsere Beispiele kommen aus Sachsen, den tschechischen Ländern und Slowenien – sie könnten aber auch aus Mecklenburg-Vorpommern, Galizien, der Slowakei oder der Vojvodina stammen. Gemeinsam ist ihnen die erstaunliche institutionelle Kontinuität der Organisation eines freiwilligen Dienstes für die lokale Gemeinschaft über die dramatischen Systemwechsel des 20. Jahrhunderts hinweg. Dabei existieren Freiwillige Feuerwehren immer lokal als Personenvereine mit aktiven (das heißt für die Brandbekämpfung einsatzbereiten) und fördernden Mitglieder*innen, die sich überlokal zu regionalen und nationalen Verbänden zusammenschließen, die wiederum untereinander rege den internationalen Austausch pflegen.
Deutschlands Einheit treibt rund 20 Jahre nach ihrer Sturzgeburt seltsame Blüten. Lobeshymnen und Jubelfeiern wechseln sich immer noch mit deprimierenden Bilanzen ab. Blühende Landschaften gibt es, und zwar gar nicht so wenige, aber flächendeckend sind sie nicht geworden. Umso heftiger ist der Groll bei den tatsächlichen und vermeintlichen Verlierern. Er grummelt unter der Oberfläche, wagt sich aber kaum an die Öffentlichkeit. Die im Dunkeln sieht man nicht. Die Linkspartei profitiert davon. Regelmäßig erhobene Umfragen differieren zwar erheblich, bringen aber nur in seltenen Fällen wirklich erfreuliche Ergebnisse. Der Journalist Michael Jürgs, ein kontinuierlicher Beobachter der Entwicklung mit spitzer Feder, kommt dennoch in seiner Bilanz der Einheit von 2008 zu dem launigen Ergebnis: „Da es inzwischen sogar in Oberammergau keine Sensation mehr ist, wenn ein Kellner sächselt, lässt sich vermuten, dass die Einheit beim Volk angekommen ist.“ Die Geschichte der Einheit ist zwar mittlerweile vielfach und ausführlich dargestellt worden; ob sich die damit verbundenen Probleme tatsächlich auf so unspektakuläre Weise erledigt haben, wie Jürgs suggeriert, ist jedoch fraglich.
In der Nachkriegsgeschichte haben die Kirchen in beiden Teilen Deutschlands weit über die kirchenhistorischen Entwicklungen im engeren Sinne hinaus eine wichtige Rolle gespielt. Insbesondere gilt das für die jüngste Zeitgeschichte: In der DDR wurde die evangelische Kirche zur Mutter der Revolution stilisiert, aber auch wegen ihrer Nähe zur SED und zur Stasi ins Kreuzfeuer der Kritik genommen. Beide Aspekte haben erklärlicherweise im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden. Denn ohne die Kirche als Institution hätte es in der DDR keine Herbstrevolution gegeben, weil die Gruppen ohne das schützende Dach keine Entfaltungsmöglichkeit besaßen und so die Rolle als Motor des Umbruchs kaum hätten spielen können.
Historische Erzählungen und Kunstwerke von und über LSBTIQ*s sind in deutschen Museen immer noch unterrepräsentiert. Sind sie doch vorhanden, ist die Darstellung oft einseitig. Wahrlich queere Zugänge zu Ausstellungen und musealen Sammlungen sind noch rarer gesät. Wo das Problem liegt und wie geglückte Versuche aussehen können, davon erzählt dieser Essay.