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Vergangene Zukunft? Der russisch-ukrainische Krieg und die Rückkehr der modernen Zeiterfahrung
(2024)
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine überbieten sich die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Es prägen die Sorgen des „Krieges in Europa“ beziehungsweise eines „Dritten Weltkrieges“, in dem sich die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur (wieder) feindselig gegenüberstehen.
Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal, weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich, weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche „Machbarkeit“ der eigenen Geschichte voraussetzt.
Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hier einige Überlegungen über diese Fragen zusammentragen, die mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet haben.
Im Jahr 2012 kam der Film »Fetih 1453« in die türkischen Kinos. Das Heldenepos um den 18-jährigen Sultan Mehmed II., dessen Truppen die oströmische Hauptstadt einnahmen, war unter Einsatz neuester Computertechnik, Animationen und vielerlei Effekten hergestellt worden. Der Kinostart in Istanbul war – damit die geschichtsträchtige Symbolik sich auch jedem Türken deutlich erschließe – um 14.53 Uhr. Der Film entwickelte sich rasch zum Kassenschlager. Er war nicht nur der teuerste in der Türkei jemals gedrehte Film – seine Produktionskosten beliefen sich auf 17 Mio. US-Dollar –, sondern zog auch die meisten Besucher an.
Nostalgie wird oft in kulturellen und, mehr noch, popkulturellen Kontexten diskutiert. Gelegentlich – und gerade in den letzten Jahren wieder – findet sich der Begriff jedoch auch in politischen Zusammenhängen. So wird er dazu verwendet, politische Entwicklungen zu erklären: etwa das britische EU-Referendum, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, das Erstarken der AfD in Deutschland oder den Aufstieg neuer Autoritarismen im östlichen Europa. Viele Beobachter*innen stellen einen in ihren Augen alarmierenden Zusammenhang zwischen Politik und Vergangenheitssehnsucht her. Aus ihrer Sicht resultieren die Effekte einer ungebremsten Globalisierung in einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit. Statt über sozioökonomische Konstellationen und Interessen erklären sie Politik emotional und psychologisch, wobei sie Nostalgie repathologisieren.
Die Vorwürfe gegen den Kameruner und in Südafrika lebenden Historiker Achille Mbembe, er sei Antisemit, „Israel-Hasser“ und habe zudem den Holocaust relativiert, lösten eine kontroverse und verbissene Diskussion aus, die in Feuilletons, sozialen Medien, aber auch auf politischer Ebene insbesondere Mitte letzten Jahres heftig ausgetragen wurde. In diesem Zusammenhang gerieten auch die diversen heterogenen, unter dem Signet „postkoloniale Theorie“ firmierenden Ansätze unter Beschuss, für die Mbembe als wichtigster afrikanischer Repräsentant steht, obgleich er sich mehrfach von ihnen distanziert hat. So beklagte er etwa in seinem Buch „On the Postcolony“ (2000) die Gegenstandsferne postkolonialer Perspektiven auf Afrika, die komplexe Phänomene wie Staat und Macht auf Diskurse und Repräsentationsmodelle reduzieren würden.
Russlands Krieg gegen die Ukraine enthüllte nicht nur den imperialen Großmachtanspruch herrschender Eliten in Russland, sondern auch ein generelles kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber Ukrainer:innen. Darüber hinaus beklagen immer wieder Stimmen aus Kasachstan, Georgien und Usbekistan den kolonialistischen Habitus einiger geflüchteter Russ:innen. Diese Einstellungen haben ihre Wurzeln im russländischen Imperium, denn die Revolution und Gründung der Sowjetunion brachen nur bedingt mit dem imperialen Erbe des Zarenreiches. Spätestens seit den 1930er Jahren stand, nach einigem nationalpolitischen Hin- und Her, das russische Volk auch in öffentlichen Diskursen an der Spitze der sowjetischen Völker. In einem kurzen, aber besonders repräsentativen Beispiel möchte ich zeigen, wie in der Zwischenkriegszeit diese Hierarchisierung durch öffentlich publizierte Fotografien suggestiv vermittelt wurde.
Ol’ga Šparaga hat die belarusischen Untersuchungsgefängnisse von innen gesehen. Sie erzählt vom Schmutz und von der Kälte, von den Verhören – und von der Angst der Wärter. Um einem drohenden Strafverfahren wegen angeblicher Organisation von Massenunruhen zu entgehen, ist sie nach Litauen geflohen, wo sie Bildungsbeauftragte des Koordinationsrats der belarussischen Gesellschaft wurde. Trotz der massiven Repressionswelle, mit der das Regime die Gesellschaft überzieht, bleibt sie optimistisch: An dem Versuch, die Zeit anzuhalten, ist bisher noch jeder gescheitert.
Viele wundern sich dieser Tage über den kometenhaften Aufstieg des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem globalen Medienstar. Besonders augenfällig wird dies durch den grellen Kontrast zur medialen Inszenierung seines Widerparts im Kreml. Selenskyj lässt Putin alt aussehen, doch hinter seinem internetaffinen, von Videoclips und Selfie-Ästhetik inspirierten Kommunikationsstil stehen mehr als nur ein paar gute PR-Strategen. Dass der ukrainische Präsident sich der „sozialen Medien“ virtuos zu bedienen weiß, hat er nicht erst seit Kriegsausbruch unter Beweis gestellt. Dass die ukrainische Führung nun auch in ihrer Kriegspropaganda erfolgreich auf Interaktion und Nähe setzt, ist nicht zuletzt ein Gradmesser für den Stand der öffentlichen Kommunikation in der sich demokratisierenden ukrainischen Gesellschaft.
Am Morgen des 24. Februar, kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, lag eine Mail der Pressesprecherin meiner Universität im Postfach: Sie rechne angesichts der Lage mit vermehrten Anfragen der Presse. Ob ich, immerhin doch Osteuropahistorikerin, als Expertin für den aktuellen Konflikt zur Verfügung stünde? Wenn man, wie ich, seine Schwerpunkte in der Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts einerseits und dem russischen 17. und 18. Jahrhundert andererseits gelegt hat, wird man mit solchen Anfragen normalerweise nicht überhäuft. Sicher, Dokumentarfilmer*innen und Podcaster*innen fragen manchmal an, aber das heute-journal oder die Tagesschau? Ungewöhnlich.
Die Volksrepublik China, die Mongolei, Nordkorea und Japan – vier von insgesamt vierzehn direkten Nachbarn Russlands sind ostasiatische Staaten. Im Allgemeinen wird Russland als geografisches, politisches und kulturelles Bindeglied zwischen Asien und Europa verstanden. Allerdings wird Russland in Ostasien und „in Japan nicht primär als europäische, sondern als asiatische Macht wahrgenommen.“ Aus Japans Sicht führt die asiatische Großmacht Russland unter Missachtung territorialer Grenzen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Auswirkungen auf Japans politische Agenda.
Der Irak-Krieg des Jahres 2003 wurde von zwei Bildern eingerahmt: Eines zeigt die Bombardements am Anfang und eines den Fall der Saddam-Statue auf dem Firdos-Platz am Ende. Lange vor dem Beginn des Krieges war bereits viel über die Taktik des amerikanischen Militärs geschrieben worden. Ein Militärschlag, wie es ihn noch nie gegeben hatte, sollte ihn eröffnen. „Shock and Awe“ wurde von der Bush-Administration als Bezeichnung ausgegeben, und noch Anfang März wurde die „MOAB“ getestet, die „Mother of all Bombs“. Schon der Name ließ sich leicht mit dem geplanten Irak-Krieg in Verbindung bringen, hatte Saddam Hussein den Zweiten Golfkrieg 1991 doch als „Mother of all Battles“ bezeichnet.