1945-
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Bilder von Flüchtlingslagern rufen in der Regel emotionale Reaktionen, ja Bestürzung über die enormen Ausmaße dieser prekären Einrichtungen hervor. Manchmal führen sie gar zur Frage, ob und wie diese Orte überhaupt existieren können. Bei der Betrachtung von Fotos und der gesamten Bildwelt der Flüchtlingslager stellen sich spontan Assoziationen ein: materielle Not, eine offensichtlich nur provisorische Organisation der Räume, schwach ausgeprägte Spuren, die das Lager als Form von der natürlichen Umgebung und dem Boden kaum abheben. All dies vermittelt den Eindruck, dass morgen bereits verschwunden sein könnte, was uns heute vor Augen steht. Wir werden von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, das mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, mit den in Europa vorherrschenden Normen der Raumorganisation und den Lebensweisen des Westens. Dieses Gefühl legt eine bestimmte Einordnung nahe. Es mischt sich mit einer von den Themen Ausnahmezustand und Thanatopolitik geprägten Vorstellung des Lagers. Manche Sozialwissenschaftler/innen, Journalist/innen und Fotograf/innen haben sich von dieser stark vereinfachenden Repräsentation täuschen lassen und die Lager der Gegenwart vor dem Hintergrund der Shoah betrachtet. Global gesehen, ist die Wirklichkeit der Lager des 21. Jahrhunderts jedoch wesentlich komplexer und ambivalenter. Einerseits muss das Modell der Ausnahme relativiert werden durch die sowohl globale als auch lokale Kontextualisierung der Lager – selbst wenn sich die für die Sicherheit verantwortlichen oder humanitären Mächte gern von diesem Modell inspirieren lassen. Andererseits prallen im Alltag der Flüchtlingslager zwei unterschiedliche Zeitregime aufeinander, ereignet sich gleichsam ein Schock zwischen der Langsamkeit des Alltags der Ein-Gelagerten (encampés) und der von der humanitären Dringlichkeit bzw. der Brutalität der Sicherheitseinsätze verursachten Hektik und Betriebsamkeit (urgentisme). Aus diesem Grund sind Spannung und Ungewissheit stets Teil des Handelns, der Sinnzuschreibung solcher Orte und ihrer Zukunft.
Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien, zwischen dem europäischen Hauptland und der iberischen Halbinsel. Dort, wo sie nicht in den Himmel ragen, in ihren Tälern und auf ihren Passhöhen sowie an den Meeren, waren die Pyrenäen auch stets eine tierra de paso, eine Transitzone. An ihren östlichen Ausläufern gibt es zwei bedeutende Übergänge. Einer liegt im sanften, flachen Tal von La Jonquera und quert die Landesgrenze bei Le Perthus. Der andere kreuzt an der Küste am Coll dels Belitres zwischen Cerbère (Frankreich) und Portbou (Spanien). Daneben und dazwischen durchziehen kleine Wege die Landschaft, offizielle und inoffizielle, Pfade für Schmuggler, Verfolgte, Fliehende. Jede Gegend und jede Route hat ihre Konjunktur. Die Hoch-Zeit dieser Transitlandschaft, als sich die europäische Kriegs- und Verfolgungsgeschichte des 20. Jahrhunderts an dieser Grenze kristallisierte, war zwischen dem Winter 1938/39, als der spanische Krieg mit dem Sieg Francisco Francos endete, und den Jahren 1940/41, bevor im Sommer 1941 die systematische Vernichtung der europäischen Juden begann.
Von Feinden zu Freunden? Eine Geschichte der US-Militärpräsenz in West-Berlin und der transatlantischen Beziehungen.
In den Nachkriegsjahren entstand eine Meistererzählung, die noch heute die Geschichte der Beziehungen zwischen West-Berlin und den USA prägt: Die sowjetische Blockade 1948/49 habe die USA zur wichtigsten »Schutzmacht« des bedrohten »Vorpostens der Freiheit« inmitten der DDR werden lassen. Aus den einstigen Feinden seien damals Freunde geworden, die erst abzogen, als ihre Mission 1989 /90 erfüllt war. Dieser linearen Erfolgsgeschichte stehen Bilder von Protesten gegen den Vietnamkrieg oder im Umfeld der Besuche des US-Präsidenten Ronald Reagan diametral entgegen.
Stefanie Eisenhuth fügt diese widersprüchlichen Elemente zu einer neuen Erzählung zusammen, die sowohl die Höhe- als auch die Tiefpunkte des transatlantischen Verhältnisses erörtert. Sie fragt nach der Wahrnehmung und Deutung der US-Militärpräsenz sowie nach den Bedingungen des deutsch-amerikanischen Zusammenlebens in einer Stadt, die eine räumliche Abgrenzung nur bedingt erlaubte und zudem von enormer symbolischer Bedeutung war. Sie analysiert Begegnungen auf offizieller und informeller Ebene, individuelle und inszenierte Freundschaftsbekundungen, organisierte Proteste und Konflikte in West- sowie in Ost-Berlin zwischen 1945 und 1994.
Das Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien 1947 zerteilte das Land nicht nur, sondern verursachte auch (jahrzehntelange) Migrationsbewegungen. In den Ostteil des neu gegründeten Pakistans migrierten urdusprachige Muslime, die der banglasprachigen Mehrheitsgesellschaft trotz gemeinsamer Religionszugehörigkeit überwiegend fremd gegenüberstanden. Als die Spannungen zwischen den ungleichen pakistanischen Landesteilen im Kampf um die Unabhängigkeit Ostpakistans eskalierten und daraus 1971 der neue Staat Bangladesch entstand, galten die Urdusprachigen als »Volksverräter« und verloren ihre Staatsbürgerschaft. Zum Teil bis heute leben sie mit ihren Nachkommen in mehr als 100 Flüchtlingscamps innerhalb des Landes. Der seit über 40 Jahren andauernde Wartezustand dieser Gruppe führt zu unterschiedlichen Strategien und Konflikten. Geschlecht, Bildung und besonders das Alter entscheiden über das Selbstverständnis der Campbewohner: Während sich die ältere Generation weiterhin für eine Repatriierung nach Pakistan einsetzt, fordern die Jüngeren verstärkt die bangladeschische Staatsbürgerschaft, die 2008 vom Obersten Gerichtshof des Landes formal anerkannt wurde. Dazwischen steht eine große Zahl Unentschlossener, die sich mit den Camps arrangiert hat. Der Aufsatz zeigt, dass weder Staatsangehörigkeit noch Staatenlosigkeit festgefügte Identitäten sind; Flüchtlingscamps sind zugleich Orte des Transits, der Vergemeinschaftung und der Stigmatisierung. Der praxeologische Ansatz des Diasporakonzepts bietet Zugang zu der perpetuierten migrantischen Situation der Urdusprachigen.
Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?
»If you can’t beat ’em, join ’em«. Computerschach und der Wandel der Mensch-Maschinen-Verhältnisse
(2018)
Radio Luxembourg war in der europäischen Rundfunklandschaft der Nachkriegszeit eine Ausnahme: Die privatkommerzielle Radiostation sendete werbefinanzierte Unterhaltungsprogramme in die benachbarten Staaten und erreichte damit ein Millionenpublikum. Die Autorin Anna Jehle zeigt anhand verschiedener Untersuchungsfelder - der Unternehmens- und Programmgeschichte, der Zielgruppen, der Marketingaktivitäten und des Werbezeitenverkaufs -, wie eng die Entwicklung der Konsumgesellschaft im Frankreich der sogenannten trente glorieuses mit der Verbreitung und Nutzung des Radios verbunden war. Mit seinem ganz auf Massenkonsum ausgerichteten Rundfunkkonzept war Radio Luxembourg nicht nur integraler Bestandteil, sondern auch Katalysator und Agent der Konsummoderne. Dies hatte weitreichende Auswirkungen für das französische Rundfunksystem, das sich unter dem Einfluss Radio Luxembourgs kommerzialisierte, und zwar bereits lange vor der Deregulierung des Rundfunks in den 1980er Jahren.
»Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?«, fragt sich der Schriftsteller, Fotograf und Regisseur Chris Marker (1921–2012) in seinem Filmessay »Sans Soleil« (1983). Damit weist er auf die Kluft zwischen Erfahrung und Erinnerung hin, die stets das Ergebnis reflexiver Prozesse ist. Er deutet des Weiteren einen Aspekt an, der für Historiker*innen von beträchtlicher Relevanz ist: den konstruktiven Charakter des Selbstzeugnisses. Nicht erst die historische Erzählung, sondern schon das Elementarteilchen der Geschichtsschreibung, das (Selbst-)Zeugnis, ist seit jeher das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses der Neu- bzw. Umschreibung. Denn auf der einen Seite unterliegen Zeugnisse selektiven Wahrnehmungs- und Gedächtnismechanismen, auf der anderen ändern sie sich im Laufe der Zeit durch die Interaktion mit neu eingetretenen Erfahrungen und kollektiven Anstößen. Die negative Kehrseite dieser Verformbarkeit kommt bei der Manipulation und Instrumentalisierung von Zeugen durch Politik und Medien ans Licht, worüber Historiker*innen in den letzten Jahrzehnten intensiv reflektiert haben. Jedes (Selbst-)Zeugnis muss daher als eine Momentaufnahme in einem Prozess der Erinnerungsverarbeitung angesehen und entsprechend kritisch im Kontext seiner Entstehung und späteren Rezeption analysiert werden. Ohne Zeugnisse damit dem Bereich des Fiktiven zuzuordnen, bezweckt diese kritische Auseinandersetzung, ihnen die Qualität der Reinheit, Ursprünglichkeit und Beständigkeit, der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Vergangenheit und der Individualität abzusprechen und sie in den Horizont sinnbildender Prozesse zurückzuführen.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie Migration durch Statistik sozial relevant wird. Welche Kategorien kommen dabei zum Einsatz? Zuerst wird die historische und wissenssoziologische Perspektive erläutert. Im zweiten und dritten Teil werden historische Umbrüche in der Kategorisierung von Migration am Beispiel der amtlichen Statistik im Deutschen Kaiserreich und in der Bundesrepublik Deutschland skizziert. Der Fokus verschob sich von Migration als Ein- und Ausreisebewegung zu Migration als Alteritätszuschreibung (gestützt auf die Kategorie »Migrationshintergrund« ab 2005). Vor diesem Hintergrund wird im letzten Teil gezeigt, wie sich vergangene und aktuelle Kategorisierungen von Geflüchteten mit der Migrations- und Integrationssemantik verbanden bzw. verbinden. Über die Rekonstruktion der semantischen Brüche und Kontinuitäten hinaus dient die historische Kontextualisierung dem Ziel, heute gängige Kategorien für Migration und Flucht besser reflektieren zu können, die in der Wissenschaft, Politik und Verwaltung verwendet werden.
It would be easy to presume that the Universal Declaration of Human Rights had always been a symbol of opposition and dissent in the German Democratic Republic. Passed by the United Nations General Assembly on December 10, 1948, the UDHR contained a number of provisions that contradicted the political and social order of the GDR as run by the Socialist Unity Party (SED). It demanded an independent judiciary, prohibited arbitrary arrest and invasion of privacy, and guaranteed the right to leave one’s own country. In East Germany, where the judiciary was firmly an ideological organ, the Stasi regularly conducted mass surveillance and arbitrary detention and those seeking to leave the country illegally were shot at the border, this would seem to be a document seen to be inherently hostile to SED rule. Even the social rights contained in the UDHR, in particular the right to strike, were contrary to the legal realities of East Germany where citizens could not demand rights from the state that would obstruct the will of the party.
Yet over the course of East Germany’s existence, the Universal Declaration was more likely to be invoked by the SED than by its domestic opponents. The SED came to view the Universal Declaration and the UN human rights system as a whole as an ally to the Socialist Bloc and the contents of the UDHR reflected in the achievements of socialism within the borders of the GDR. For decades this was not challenged by East Germans on a mass scale, until very suddenly in the late 1980s, human rights and the UDHR became symbols of the democratic opposition. This article will trace the trajectory of the UDHR in East German public discourse from its passage in 1948 and the reaction by the SED in the Soviet Occupied Zone, through the commemorations of the UDHR on its many anniversaries before the ultimate collapse of SED in 1989.